sehepunkte 18 (2018), Nr. 3

Britta-Juliane Kruse: Stiftsbibliotheken und Kirchenschätze

Britta-Juliane Kruse rückt sowohl die Buchbestände als auch die Kirchen- und Stiftsinventare der niedersächsischen Augustiner-Chorfrauenstifte Steterburg und Heiningen in dieser materialreichen und wegen der Fülle an Abbildungen im wahrsten Sinne illustrativen Studie in den Blick der Forschung. Hervorgegangen ist sie neben drei weiteren Publikationen aus dem Kooperationsprojekt "Rekonstruktion und Erforschung niedersächsischer Klosterbibliotheken des späten Mittelalters", an dem die Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel und das Zentrum für Mittelalter- und Frühneuzeitforschung der Universität Göttingen beteiligt waren. Von 2008 bis 2013 wurden neben Steterburg und Heiningen auch die Buchbestände der Zisterzienserinnen zu Wöltingerode sowie des Augustiner-Chorherrenstifts zu Goslar gesichtet und erforscht. [1] Da Kruses Schwerpunkt auf Steterburg liegt, konzentriert sich die Besprechung ebenfalls auf diesen Konvent.

Bei der Rekonstruktion des Steterburger Buchbestands operiert Kruse mit den Termini "Kontextualisierung", "Zeitschnitt" und "Dynamisierung". Methodischer Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass eine monastische Büchersammlung nicht isoliert, sondern im Kontext der sakralen Ausstattung des Gesamtensembles betrachtet werden sollte (8-10, 48). Somit wird Buch- und Bibliotheksgeschichte eingebettet in die Geschichte der materiellen Kultur, indem die Objekte eines Konvents in Beziehung zu seinen Bewohnern und der von ihnen genutzten Räumlichkeiten gesetzt werden. Zeitschnitt meint einen Zeitpunkt, zu dem präzise Daten zu Umfang und Zusammensetzung einer Büchersammlung, insbesondere bei Inventarisierungen, erhoben werden können (10-11). Unter Dynamisierung dagegen werden Prozesse oder Entwicklungen verstanden, die auf den Bestand erweiternd oder schmälernd einwirken (11).

Kruse umreißt in Kapitel 1-2 Geschichte und Topografie des um das Jahr 1000 von Frederunda, Tochter des Grafen Altmann von Ölsburg, und ihrer Mutter Hathewig gegründeten Steterburgs, das der Aachener Kanonissenregel folgte (26-36). [2] 1142 trat eine erste Zäsur mit Umwandlung Steterburgs in ein Augustiner-Chorfrauenstift ein; das Leben der Regularkanonissen richtete sich nach der Augustinerregel Regularis Informatio, die die Einführung der Klausur vorschrieb. Neben einem Klausurbereich und einem Kreuzgang (52-57) wurde auf der Westempore des Kirchenschiffs ein Frauenchor als "spirituelles Zentrum" errichtet (87-92). Ferner sind mindestens neun Altäre für den Kirchenraum belegt (74-86), deren Lage in einer instruktiven Grundrisszeichnung wiedergegeben wird (270).

In Kapitel 3-5 verbindet Kruse die bibliotheksgeschichtliche Darstellung mit der frömmigkeitsgeschichtlichen Entwicklung Steterburgs, um die sich im Bestand widerspiegelnden Dynamisierungsprozesse freizulegen. Da der von der Regel vorgeschriebene Chordienst den monastischen Tag fest strukturierte, wurden nachweisbar ab dem 13. Jahrhundert fast ausschließlich Liturgica erworben, die zum ältesten Steterburger Bestand gehören (124-135). Noch um 1407 stiftete der Steterburger Kaplan und Propst Ekbert Pistor († 1422) weitere zwölf Liturgica (136-139), obwohl vermehrt geistliches Schrifttum in Steterburg wie die in Cod. Guelf. 474 Helmst. überlieferte niederdeutsche Übersetzung des Speculum Beatae Mariae Virginis des Konrad von Sachsen zu finden ist (140-152).

Eine zweite Zäsur erfolgte mit der Einführung der Windesheimer Kongregation 1452. Die geänderte Liturgie führte einerseits zu einem systematischen Aussortieren bereits vorhandener Liturgica, andererseits aber auch zur Neubeschaffung von Reformliturgica. Folglich lag der Schwerpunkt auf liturgischen Handschriften (255-258), unter denen das Steterburger Manuale Cod. Guelf. 1028 Helmst. (157-160) sowie ein weiteres, kürzlich im Occidental College zu Los Angeles entdecktes Manuale hervorzuheben sind. [3] Aber auch die breite Rezeption devoter Literatur (160-164) und Literaturgattungen wie Rapiarien (164-170) und Gebetbücher (170-179 mit zahlreichen Auszügen) innerhalb der Windesheimer Klöster, die den monastischen Zweig der Devotio moderna repräsentieren, überrascht nicht. Bis in das erste Viertel des 16. Jahrhunderts setzte sich dieses Sammlungsprofil fort (191-233).

Der Steterburger Bestand war je nach Gattung handlungsorientiert aufgestellt (14): Liturgische Bücher, die in der Sakristei oder im Frauenchor aufbewahrt wurden, enthielten die Texte für das Chorgebet; dessen Glaubensaussagen wurden durch die Objekte des Steterburger Kirchenschatzes, der zur Ausgestaltung von Frauenchor und Altarraum mit Wandmalereien, Glasfenstern, bekleideten Heiligenfiguren sowie Paramenten diente, motivisch ergänzt. Zur Festigung ihrer persönlichen Frömmigkeit durch geistliche und christlich-meditative Lektüre war den Regularkanonissen Besitz und Benutzung von Gebet- und Andachtsbüchern in ihren Zellen erlaubt.

Die Verteilung der Steterburger Bücher auf verschiedene Standorte dokumentiert das von Herzog Julius von Braunschweig und Lüneburg veranlasste Inventar von 1572 (Edition 246-255), das Kruse in Kapitel 6 auswertet. Im Gegensatz zu einem ersten Inventar von 1316 umfasst dieses auch den Kirchenschatz, der größtenteils von den Regularkanonissen selbst angefertigt wurde (Edition und Übersetzung 99-120) [4]. Beide Inventare von 1316 und 1572 sind wichtige Primärquellen, die als Zeitschnitte den Buchbesitz zu einem bestimmten Zeitpunkt überliefern. [5] Nach der Inventarisierung wurden die Bestände in die Bibliotheca Julia nach Wolfenbüttel überführt und systematisch mit Herkunftsbelegen versehen, kamen 1618 an die Universität Helmstedt und von dort zurück in die Herzog-August-Bibliothek (5-7).

Durch die Sichtung des Helmstedter Bestands, in dem die Steterburger Bände heute teils vermischt mit anderen Klosterprovenienzen aufgestellt sind, kann Kruse für den Rekonstruktionszeitraum von ca. 1275-1530 (13) einen beachtlichen Zuwachs an Steterburger Bänden vorweisen: 2008 waren lediglich 32 Handschriften und 13 Drucke bekannt, 2013 dagegen insgesamt 84 Bände mit 47 Handschriften, sechs Mischbänden und 31 Drucken (419-425). Neben den Inventaren als Primärquellen berücksichtigte sie auch Sekundärquellen (Quellen ohne Überlieferungsabsicht), aus denen sie provenienzrelevante Kriterien anhand von Besitzeinträgen, Schreiberhänden, Ausstattung und Einbänden gewinnen konnte. Diese bibliothekshistorisch aussagekräftigen, aber häufig nur dem geübten Blick erkennbaren Quellen werden dem Leser in zahlreichen Abbildungen vorgestellt.

Aufschlussreich für Lebenswirklichkeit und Glaubenspraxis der Steterburger Regularkanonissen ist der abschließende Editionsteil u.a. mit dem Lehrtraktat Die weiße Lilie der Keuschheit (204-206, Edition 5) sowie dem anrührenden Bilderzyklus Grüße an das Christkind (206-217, Edition 6). Hier erhält der Leser eine Vorstellung, welches Material die in der älteren Forschung häufig despektierlich beurteilten Büchersammlungen weiblicher Kommunitäten bieten (7). Kruse versteht ihren Beitrag deshalb auch als Anregung und Leitfaden für weitere Forschungen zur Buch-, Bibliotheks- und Rezeptionsgeschichte sowie zu Frömmigkeit und Bildung in niedersächsischen Frauenklöstern (16).

Da das Kooperationsprojekt auch Mittel zur Tiefenerschließung, Restaurierung und Digitalisierung der Steterburger Bestände vorsah (18-19), wird die der älteren Forschung unbekannte virtuelle Rekonstruktion das Aufspüren weiterer versprengter Bücher aus Steterburg erleichtern. Methodisch aber beschritten bibliothekshistorische Forschungen aus "vordigitaler" Zeit - erinnert sei an die wegweisenden Arbeiten des Wolfenbütteler Bibliothekars Hermann Herbst - vergleichbare Wege wie die Studie von Kruse. Ob allerdings der Begriff Dynamisierung, dessen Bedeutungsgehalt ebenso gut mit Bestands- oder Sammlungsprofil hätte wiedergegeben werden können, zu präziseren Ergebnissen führt, sei dahingestellt.


Anmerkungen:

[1] Rosenkränze und Seelengärten. Bildung und Frömmigkeit in niedersächsischen Frauenklöstern. Ausstellung der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel vom 3. März bis zum 25. August 2013, hg. v. Britta-Juliane Kruse, Wiesbaden 2013; Jessica Kreutz: Die Buchbestände von Wöltingerode. Ein Zisterzienserinnenkloster im Kontext der spätmittelalterlichen Reformbewegungen, Wiesbaden 2014; Jochen Schevel: Bibliothek und Buchbestände des Augustiner-Chorherrenstifts Georgenberg bei Goslar. Ein Überblick über die Entwicklung im Mittelalter bis zur Zerstörung 1527, Wiesbaden 2015 (dazu: http://www.sehepunkte.de/2016/05/27282.html; ferner: H-Soz-Kult: www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-26334).

[2] Die älteste innerhalb des Projekts bearbeitete Handschrift ist Cod. Guelf. 877 Helmst. mit den Institutiones sanctimonialium Aquisgranensis; sie stammt aus Stift Heiningen; ein ähnliches Exemplar wird auch Steterburg besessen haben (33).

[3] Signatur: 1 box 223 2 L615. Die tatsächliche Herkunft aus Steterburg ist noch nicht endgültig geklärt. Vgl. http://mssprovenance.blogspot.co.uk/2014/06/a-manuale-from-augustinian-convent-of.html (mit Teilabbildungen).

[4] Diplomatisch getreue Edition in: Britta-Juliane Kruse: Der verschwundene Schatz der Chorfrauen. Eine Rekonstruktion der materiellen Kultur im Augustiner-Chorfrauenstift Steterburg anhand des Inventars von 1572, in: Schriftkultur und religiöse Zentren im norddeutschen Raum. Hgg. von Patrizia Carmassi / Eva Schlotheuber / Almut Breitenbach, Wiesbaden 2014 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien; 24), 355-411, hier 387-404.

[5] Edition und Auswertung des Inventars von 1316: Britta-Juliane Kruse / Kerstin Schnabel: Bücher in Bewegung: Dynamisierung und Inventarisierung der Buchbestände im Augustiner-Chorfrauenstift Steterburg, in: Die Bibliothek des Mittelalters als dynamischer Prozess, hg. v. Michael Embach, Wiesbaden 2012, 147-175. Ein drittes Inventar des Steterburger Kirchenschatzes wurde 1619 erstellt, das deutlich die großen Verluste an Ausstattungsgegenständen im Vergleich zu 1572 zeigt (373-374).

Rezension über:

Britta-Juliane Kruse: Stiftsbibliotheken und Kirchenschätze. Materielle Kultur in den Augustiner-Chorfrauenstiften Steterburg und Heiningen (= Wolfenbütteler Mittelalter-Studien; Bd. 28), Wiesbaden: Harrassowitz 2016, XII + 500 S., ISBN 978-3-447-10291-9, EUR 92,00

Rezension von:
Anja Freckmann
Abteilung für Handschriften und Alte Drucke, Bayerische Staatsbibliothek, München
Empfohlene Zitierweise:
Anja Freckmann: Rezension von: Britta-Juliane Kruse: Stiftsbibliotheken und Kirchenschätze. Materielle Kultur in den Augustiner-Chorfrauenstiften Steterburg und Heiningen, Wiesbaden: Harrassowitz 2016, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 3 [15.03.2018], URL: https://www.sehepunkte.de/2018/03/29770.html


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