sehepunkte 18 (2018), Nr. 5

Christoph M. Loos: Eine (Wieder-)Erfindung des Holzschnitts in Resonanz mit Merleau-Pontys Chiasma / A Woodcut (Re-)invention in Resonance with Merleau-Ponty’s Chiasma

Aus der vom akademischen Publikationszwang ausgelösten Flut an gedruckten Promotionsschriften zur Kunstgeschichte und -gegenwart taucht gelegentlich eine Ausnahmekategorie auf. Eine Doktorarbeit, die, von einem Künstler verfasst, dessen Werk zum Gegenstand hat, gehört zu den Besonderheiten des Wissenschaftsbetriebs. Ein solcher, in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerter Spezialfall ist die 2014 an der Manchester Metropolitan University vorgelegte, 2017 in Deutsch und Englisch erschienene Dissertation, in der sich Christoph M. Loos mit dem Selbstverständnis eines "Künstler-Philosophen" zu Wort meldet.

Der Autor, der seit circa 20 Jahren auf dem Gebiet des Holzschnitts ein eigenständiges Werk entwickelt hat, verknüpft die ästhetische Reflexion mit konkretem künstlerischem Handeln. Resultat ist ein großformatiger Prachtband von einer produktionstechnischen Solidität, die ihresgleichen sucht. Bereits seine beeindruckende Opulenz deutet Reichweite und Ambitionsniveau des Inhalts an. Denn in diesem Buch-Objekt geht es um nichts Geringeres als eine Neuformatierung des traditionellen Mediums Holzschnitt. Diese scheint in dem Maße notwendig geworden zu sein, wie nach Verabschiedung der "Kunst für alle"-Ideologie die vergleichsweise bescheidenen, technisch bedingten Formatbegrenzungen der multiplizierten Drucksachen nur noch geringe Publikumsattraktivität und gesellschaftliche Aussagefähigkeit entwickeln.

Vor dem Hintergrund solch fundamentalen Bedeutungsverlustes entfaltet der Autor in 10 Kapiteln eine "theoretische Erörterung über die grundsätzlichen Dimensionen und Kontexte, die den eigenen Holzschnitten zukommen und die in den Anspruch münden, eine wirkliche Innovationsleistung [...] innerhalb der Druckgraphik leisten zu können" (259). In der Kombination kompakter Texte und prächtiger Illustrationen umkreist die Publikation jenen Einheitsgedanken, der die bisherige Praxis des Künstlers bestimmt und ein innovatives Verhältnis von Druck und Druckstock begründet hat. Zentraler Gedanke ist die an Beispielen des eigenen Werks exemplifizierte Partnerschaft dieser beiden Komponenten in einem Kunstprozess, bei dem der Druckstock - "Mittel zum Zweck" und "Selbst-Zweck" zugleich - als "gleichberechtigter und integraler Bestandteil einer konfrontativen Konstellation" (71) zur Geltung kommt. In diesem "Sinn-System 'Baum'" (19) entstammt der Druck - im wörtlichen Sinn - dem Stamm. Kein fremdes Material ist im Spiel, sondern als Träger des Drucks dient ein dünnes Holzblatt, abgeschält von dem als Druckstock verwendeten Zylinder. Diese auf einem "Naturzusammenhang" gründende "Einheitsidee" ermöglicht die Lösung des Mediums aus seinem traditionellen Vorher-Nachher-Verhältnis, dem Ursache-Wirkung-Prinzip. In einem zirkulierenden Prozess verweist das Endprodukt des Druckvorgangs zurück auf seine Herkunft. Das "Bedingungsverhältnis als integral-genealogische Verschränkung" bringt das "Paradoxon einer Berührung mit dem Ursprung bei gleichzeitigem Verlust desselben" (23) hervor. Der Holzschnitt bildet daher nichts mehr ab, sondern reflektiert und kommentiert sich selbst und seine Bedingungen. Die Dissertation erläutert, wie sich in dieser Dimension des "Zwischen" das Kunstereignis konkretisiert. In der Diktion des Autors: "Es befindet sich im Spannungsfeld der Polarität Druck und Druckstock eine dazwischenliegende Eigentlichkeit als Wirksamkeit." (199)

Mit der Neudefinition des druckgrafischen Verfahrens ist der Verzicht auf eine Auflage verbunden. Der Druckvorgang dient nicht mehr der Herstellung einer vermarktungsfähigen Vielfalt; das Druckergebnis ist nicht das Ziel, sondern nur ein Stadium in einem Zusammenspiel kommunizierender Bedeutungen. Als Teil eines Verbundes gleichberechtigter Faktoren verlässt der Druck die Limitierungen des Zweidimensionalen und expandiert in der Auseinandersetzung mit dem Raum in Installationen oder ortsspezifische Inszenierungen. Im Zuge solchen Raumgewinns kommen weitere ästhetische Präsentationsstrategien zum Einsatz - unter anderem der Wahrnehmungsentzugs durch Verbergen (zum Beispiel Einrollen des Druckprodukts) und Vergraben.

Mit diesem komplexen Diskurs hat sich der Künstler die Rolle eines Poeta doctus zugeschrieben. Er ist sich der Besonderheit einer Dissertation als wissenschaftliche Leistung eines bildenden Künstlers im Feld der Kunst bewusst. Er begründet das Unterfangen über den aktuellen Ansatz von "Kunst als Forschung". Und er legt Wert darauf, dem möglichen Vorwurf zuvorzukommen, es handele sich dabei lediglich um die theoretische Selbstaufrüstung der eigenen künstlerischen Praxis. Es geht ihm vielmehr um die Herausarbeitung jenes fluktuierenden Prozesses, in dem sich künstlerische Arbeit und Reflexion gegenseitig komplettieren. Die Erörterung dieses Zusammenhangs in Form der Dissertation wertet der Autor / Künstler als unerlässliche Voraussetzung zum Verständnis seiner Werkauffassung. Bedingung einer adäquaten Rezeption ist die Kenntnis der mit der Praxis unlösbar verbundenen philosophischen Dimension.

Durch diese seit 2003 betriebene Konzeptualisierung des eigenen Werks durch dessen Anbindung an Philosophie wird der Holzschnitt "zum Reflexionsmedium seiner selbst, seiner eigenen Bedingungsverhältnisse und Implikationen" (233). Ergebnis ist eine Art Meta-Holzschnitt, eine skulptural-grafische Meta-Sprache, die nicht auf das Resultat - das bedruckte Blatt als Ziel des künstlerischen Arbeitsprozesses - aus ist, sondern den Prozess selbst als Bestandteil des Werkes thematisiert.

Christoph M. Loos' Text vermeidet jeglichen modernen Kunstjargon. In nahezu unzeitgemäßer Rhetorik rekurriert er stattdessen auf eine Reihe tradierter Denkfiguren: philosophische Termini wie zum Beispiel die Aristotelische "Méthexis" (im Sinne eines vermittelnden Dazwischen), insbesondere aber der zentrale Bezugspunkt "Chiasma", ein Theorem, das der Künstler / Autor philosophiegeschichtlich herleitet und in der Ausformulierung Maurice Merleau-Pontys in Anspruch nimmt.

Der Band mit seiner Verflechtung von Praxis und Reflexion schließt mit der Darstellung der Großinstallation "Der Palast um 3 Uhr morgens (Ordo Inversus)", realisiert 2014 für den Kreuzgang des Klosters Alpirsbach: eine "stille Verneigung" vor dem Werk Alberto Giacomettis, dem sich Christoph M. Loos seit seinen Studientagen verpflichtet fühlt. Giacometti liefert mit seiner surrealen Konstruktion "Der Palast um 4 Uhr früh" (1932) Teile jenes visuellen Vokabulars, mit dem der Autor ein "Opus Summum" als Kulmnationspunkt seines gesamten bisherigen Werks gestaltet.

Christoph M. Loos' Position bedeutet also eine Singularität im aktuellen Wissenschaftsbetrieb. In einer Zeit, in der den künstlerischen Produkten allerhand gesellschaftliche Serviceleistungen ("Kunst als Therapie", "Kunst als Wissensvermittlung"...) abverlangt und Forderungen nach transmedialer Erkenntnisproduktion laut werden, wirkt es wie eine unzeitgemäße Strategie, wenn ein Künstler die heroische Aufgabe auf sich nimmt, gegen den Relevanzverlust einer Gattung zu arbeiten und sich um die Rettung einer gefährdeten Art bemüht: um die Wiedergeburt des Holzschnitts aus dem Geist der Installation.

Rezension über:

Christoph M. Loos: Eine (Wieder-)Erfindung des Holzschnitts in Resonanz mit Merleau-Pontys Chiasma / A Woodcut (Re-)invention in Resonance with Merleau-Ponty’s Chiasma (= Artificium. Schriften zu Kunst und Kunstvermittlung; Bd. 55), Oberhausen: Athena-Verlag 2017, 304 S., 70 Abb., ISBN 978-3-89896-658-0, EUR 58,00

Rezension von:
Harald Kimpel
Kassel
Empfohlene Zitierweise:
Harald Kimpel: Rezension von: Christoph M. Loos: Eine (Wieder-)Erfindung des Holzschnitts in Resonanz mit Merleau-Pontys Chiasma / A Woodcut (Re-)invention in Resonance with Merleau-Ponty’s Chiasma, Oberhausen: Athena-Verlag 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 5 [15.05.2018], URL: https://www.sehepunkte.de/2018/05/30944.html


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