"Es sieht zunächst aus wie eine flache sternartige Zwirnspule; [...] aus der Mitte des Sternes kommt ein kleines Querstäbchen hervor, und an dieses Stäbchen fügt sich dann im rechten Winkel noch eines." Dieses rätselhafte Gebilde mit menschlichen und dinglichen Eigenschaften namens "Odradek" aus Kafkas Erzählung 'Die Sorge des Hausvaters' dient Katalin Deme als Metapher für den Zustand der "innerlichen Zersplitterung und der Identitätsverhandlungen" (1) der drei von ihr untersuchten jüdischen Museen in Prag, Budapest und Bratislava. Die Kreatur des Odradek, der im Haus herumspukt und manchmal sogar spricht, sieht Deme mit Walter Benjamin gesprochen "als die Form, die die Dinge annehmen, wenn sie in Vergessenheit geraten; die gestaltlos gewordene, fragmentarische Erinnerung an das Vergangene" (ebenda). Eine erweiterte Deutung dieser Fantasiefigur ziert in Form eines Davidsterns den Buchdeckel ihres Werkes.
Das zu rezensierende Buch ist eine überarbeitete und in sieben Kapitel gegliederte Fassung einer 2013 an der Universität Aarhus eingereichten Dissertation. Die Autorin erläutert zunächst in der Einleitung Begriffsdefinitionen, Forschungsfrage und die Struktur der Arbeit. Dabei blickt sie über ihr eigenes Forschungsfeld hinaus und beschreibt anhand entsprechender Einrichtungen in Wien, Berlin und Paris die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte jüdischer Museen in Europa von ihren Anfängen bis in die Gegenwart. Deme geht vertiefend der Frage nach, "wie die jüdischen Museen in Prag, Budapest und Bratislava in ihren Ausstellungen sowie in ihren pädagogischen, kulturellen und wissenschaftlichen Aktivitäten in der Zeit nach dem Fall des Eisernen Vorhangs auf die Aufhebung der Kontroll-mechanismen der sozialistischen Staatsstrukturen reagierten" (4). Diesem Ziel nähert sie sich mit einer strukturierten Gliederung und widmet den untersuchten drei jüdischen Museen je ein Kapitel.
Deme beschreibt darin jeweils die ersten Museumsgründungen ab 1900 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. In den weiteren Abschnitten erforscht sie die Geschichte der Nachkriegsidentität, der veränderten musealen Darstellungsmuster in der Zeit um den Fall des Eisernen Vorhangs bis hin zu gegenwartsbezogenen Ausstellungsformen und beendet ihren zeitlichen Forschungsrahmen mit dem Jahr 2012. Jedes dieser drei Kapitel wird mit einem Abschnitt zur Thematisierung des Holocaust im jeweiligen Museumskonzept abgeschlossen.
Im Kapitel "Schlussbetrachtungen" arbeitet Deme die Unterschiede zwischen den drei Museen heraus. Einzig das Prager Jüdische Museum sei eng in internationale Netzwerke eingebunden. Dabei stehe es weniger in "direktem Kontakt zu seinem Ausstellungspublikum", sondern sei vielmehr in "pädagogisch-didaktischen und wissenschaftlichen Projekten" (245) verankert. Der Holocaust würde darin wiederum "eher mittels sekundärer pädagogischer und wissenschaftlicher Aktivitäten als auf der unmittelbaren Ausstellungsebene aufgegriffen" (248). Dem Budapester Jüdischen Museum kommt gemäß Deme "aufgrund seines unzeitgemäßen Präsentationskonzeptes und seiner fehlenden Kommunikationsstrategie" (246) in der ungarischen Gesellschaft eine untergeordnete Rolle zu. Zwar böte sich dort die Möglichkeit, in der Ausstellung auf eine gegenwärtig lebendige jüdische Gemeinschaft zu verweisen. Es wird darin laut Deme jedoch ausschließlich auf die im Holocaust untergegangene jüdische Lebenswelt eingegangen. In Bratislava fungiere das Jüdische Museum wiederum als Scharnier zwischen Staat und jüdischer Gemeinde und unterliege daher in hohem Maße "identitätspolitischen Normalisierungstendenzen". Noch stärker als in Prag oder Budapest würden dabei "interkulturelle und übernationale Aspekte der Juden in der Slowakei komplett ausgeblendet" (247). Anders als in Budapest und Prag sei der Holocaust hier jedoch didaktisch in die Dauerausstellung integriert und erfülle so eine aufklärerische Aufgabe.
Vom Rest des Buches abgekoppelt wirken die beiden abschließenden Kapitel "Ausblick" und "Epilog: Raum und Gedächtnis". Im Kapitel "Ausblick" fordert Deme die Verantwortlichen der jüdischen Museen in Prag, Budapest und Bratislava dazu auf, sich vom Nationalen zugunsten des Regionalen zu lösen und sich so aktuellen Museumsidentitäten anzunähern (beispielsweise durch eine gewissenhafte Provenienzforschung). Zudem plädiert sie für eine vertiefte Kooperation der drei Museumsinstitutionen, die sich der Verflechtungsgeschichte ihrer Länder bewusst werden sollten. Der abschließende "Epilog" schließt an diese Forderungen in literarischer Form an und zeigt am Beispiel der von Deme erfundenen Figur des "Herrn Blau", dessen Leben mit Prag, Budapest und Bratislava verknüpft ist, dass diese drei Lebensräume nicht ausschließlich nach nationalen Prämissen interpretierbar sind.
Demes Werk bietet einen guten Überblick über die Narrative, die auf die drei erforschten jüdischen Museen im Untersuchungszeitraum einwirkten. Bei der Beschreibung und Interpretation der an die Wende von 1989 anschließenden nationalen und regionalen Diskurse bleibt sie jedoch an der Oberfläche, lässt das 2014 in Warschau entstandene Museum POLIN zur Geschichte der polnischen Juden völlig unerwähnt und weicht unangenehmen Fragen aus. Damit verpasst sie die Chance, selbst den Diskurs zu erweitern und gesellschaftspolitische Barrieren zu beseitigen.
Katalin Deme: Jüdische Museen in Ostmitteleuropa. Kontinuitäten - Brüche - Neuanfänge: Prag, Budapest, Bratislava (1993-2012) (= Veröffentlichungen des Collegium Carolinum; Bd. 133), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016, X + 317 S., ISBN 978-3-525-37312-5, EUR 50,00
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