Die Stadt Leipzig kennt viele "Helden". Unangefochten im lokalen "Heldengedächtnis" sind die Frauen und Männer, die mit den Montagsdemonstrationen 1989 das Ende der SED-Herrschaft einläuteten. Die "Helden" jedoch, die im Mai 1968 und in den Jahren zuvor auf verschiedene Weise vergeblich gegen die Sprengung der Universitätskirche St. Pauli am Karl-Marx-Platz protestierten, kennt außerhalb Leipzig heute kaum noch jemand. Dabei lassen sich durchaus Linien zu 1989 ziehen, stellte die Sprengung der Kirche doch eine Machtdemonstration der SED auf jenem zentralen Platz dar, der zunächst für viele Jahre der Staatspartei als politische Bühne diente, bis im Herbst 1989 die Regierten den Raum zurückeroberten und die Herrschenden zu Fall brachten.
Ohne dem lokalen Heroenkult aufzusitzen, aber nicht ohne Bewunderung für den Mut der Leipziger "68er", untersucht Andrew Demshuk die Debatten, die der Sprengung der Kirche am 30. Mai 1968 vorangingen und dieser folgten. Dabei weist seine vortrefflich recherchierte, gelegentlich aber zu detailliert geratene Studie deutlich über den lokalen Rahmen hinaus. Bereits der Untertitel offenbart, dass Demshuk an Mary Fulbrooks Thesen zur "participatory dictatorship" anknüpft, um zu untersuchen, "how East Germans demonstrated their agency by demanding retention of a dear Leipzig landmark against the ever-hardening imperatives of the regime" (3). In erfrischend innovativer Weise verbindet er Architektur-, Politik- und Gesellschaftsgeschichte, lässt viele bislang unbeachtete Akteure sichtbar werden, zeigt die ganze Dynamik der Geschehnisse auf und dekonstruiert alte Legenden.
Die drei ersten Kapitel untersuchen nicht nur den in seinen Grundzügen bekannten Wandel des Stadtplanungsdiskurses unter sozialistischen Vorzeichen mit seinen Auswirkungen auf Leipzig (Konzentration auf die "sozialistische Umgestaltung" des Karl-Marx-Platzes). Gezeigt wird auch, dass dieser Diskurs anfangs durchaus offen für Vorschläge aus der Bevölkerung war, was die Identifikation mit dem städtischen Erbe förderte. Dass all diese Vorschläge stillschweigend ignoriert wurden, heißt nicht, dass die Umgestaltung des Platzes einem zentral vorgegebenen Plan folgte. Der Prozess blieb überwiegend Stückwerk, musste angesichts massiver Divergenzen zwischen Wunschvorstellungen und verfügbaren Ressourcen immer wieder spontan abgeändert werden und war von konfligierenden Teilinteressen geprägt. Dies betraf vor allem die Debatte um das von Kriegszerstörungen geprägte Universitätsgebäude (Augusteum), zu dessen Ensemble auch die intakt gebliebene und rege genutzte Paulinerkirche gehörte. Es war auch nicht SED-Chef Walter Ulbricht, der - wie häufig kolportiert wird - zu den frühen Befürwortern der Beseitigung der Kirche gehörte, sondern die Universitätsleitung, die ein neues modernes Gebäude wünschte und alle Vorbehalte der Leipziger Denkmalpfleger beiseiteschob. Dabei wusste das Präsidium die Leipziger Stadtplaner, die ihrerseits auf eine radikale "sozialistische Umgestaltung" der Innenstadt hinarbeiteten, und den einflussreichen SED-Bezirkssekretär Paul Fröhlich auf seiner Seite. Obwohl vor allem Hans Nadler, Direktor des Dresdner Instituts für Denkmalpflege, und der "unusually honest SED planner" (31) Alfred Rämmler nicht nur wiederholt auf den kulturellen Wert des Ensembles, sondern auch auf die wesentlich kostengünstigeren Möglichkeiten der Rekonstruktion verwiesen, wurden die kostspieligen und letztlich immer wieder änderungsbedürftigen Vorstellungen von Universität, Stadt und SED-Bezirksleitung präferiert.
Zwei Ereignisse ließen dann auch die anfängliche Bereitschaft der örtlichen Bevölkerung, am Planungsdiskurs teilzunehmen, in Desillusionierung und Unmut umschlagen. Das war zum einen die öffentliche Präsentation des künftigen Stadtmodells im November 1960, das erstmals offen signalisierte, dass das Augusteum samt Kirche aus dem Stadtbild verschwinden würde. Der Ausstellung folgte erstmals eine Propagandaoffensive gegen Andersdenkende, und das weitere Plangeschehen wurde seitdem nicht mehr öffentlich verhandelt. Das Misstrauen zwischen Planungsverantwortlichen und örtlicher Bevölkerung wuchs und brachte schließlich die Stasi auf den Plan, die zunehmend repressiv gegen den Unmut, insbesondere aus theologischen Kreisen, vorging. Zum anderen waren die Sprengung des Kunstmuseums (1962) und der Ruine der Johanniskirche (1963) Vorboten des 30. Mai 1968.
Demshuk beschreibt anschließend ausführlich die Dynamik des Jahres 1968 und zeigt, dass trotz des zunehmend repressiven Klimas viele Akteure weiter bis zuletzt versuchten, das drohende Unheil zu verhindern. Architekten und Denkmalpfleger stellten Überlegungen zur Integration der Kirche in das modernistische Ensemble an, Kirchenvertreter und Theologen versuchten auf allen Ebenen zu intervenieren. Im Mai schließlich kam es zu ersten Protesten, gegen die Polizei und Stasi mit ganzer Härte vorgingen. Jedoch hatte die Repression "apart from a smattering of exemplary cases" (152) für die meisten keine Folgen. Zudem konnte niemand verhindern, dass die Sprengung selbst unter den Augen von "several thousand citizens" (158) stattfand. Der Verfasser untersucht schließlich die Nachwirkungen des 30. Mai 1968 - eine dynamische Mischung aus offiziellem Beschweigen, einem sich vertiefenden Graben zwischen Staat und Bürgern und der Ausbildung eines Märtyrer-Narrativs.
In drei Punkten ist gegenüber der ansonsten vorzüglichen und gut lesbaren Darstellung Skepsis angebracht. Erstens wird Demshuks unverhohlene Bewunderung für den Mut der Leipziger "68er" mit der Reproduktion einer schwarz-weiß-Logik erkauft, die er eigentlich vermeiden will. So erscheinen jene, die die Sprengung verantworteten, einzig als Kulturbarbaren und farblose Opportunisten, "narrow-minded" (51) und fachlich unfähig. Diese Zuschreibungen projiziert Demshuk vor allem auf die Stadtplaner, ohne jedoch Grautöne zu reflektieren oder den Wandel des Berufsverständnisses des Architekten in der DDR zumindest zu erwähnen. Hier verliert Demshuk die Distanz zum Gegenstand. Zweitens gehen die Bewertungen des Wandels im Verhältnis von Staat und Bürgern zum Teil über das hinaus, was empirisch belegbar ist. Ob die Leipziger Bürger, die mit Eingaben versuchten, die Sprengung zu verhindern, tatsächlich "in the name of justice and democracy" (105) sprachen, ist mindestens mit einem Fragezeichen zu versehen, denn es ist unklar, ob Demshuk die Begriffe Gerechtigkeit und Demokratie als analytische Kategorien, Quellenbegriffe oder eigene normative Maßstäbe benutzt. Und drittens vermisst man Reflexionen darüber, inwiefern der Leipziger Fall tatsächlich allgemeine Rückschlüsse auf die DDR zulässt. So wirft das Beispiel etwa die Frage auf, wie sich das Verhältnis von Staat und Bürgern zum Beispiel in Stralsund gestaltete, das im Leipziger Trauma-Jahr 1968 die Aufnahme seiner gesamten Altstadt in die Denkmalliste der DDR erlebte. Hier ist noch Raum für künftige, stärker vergleichend angelegte Forschungen.
Am Ende aber überwiegt der positive Eindruck. Die Studie ist Fachhistorikerinnen und Fachhistorikern ebenso zu empfehlen wie an der Lokalgeschichte Interessierten und kann zudem einen Auftakt zu einem verstärkten Dialog bilden zwischen der klassischen kunstgeschichtlich orientierten Architekturgeschichte und der allgemeinen Zeitgeschichte, die sich nur selten intensiver mit architektonischen Fachdiskursen befasst.
Andrew Demshuk: Demolition on Karl Marx Square. Cultural Barbarism and the People's State in 1968, Oxford: Oxford University Press 2017, XVI + 256 S., 39 s/w-Abb., ISBN 978-0-19-064512-0, GBP 47,99
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