Im Wimmelbild des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts finden sie sich an jeder Ecke: "unternehmerische", "beratene", "erschöpfte" und "flexible" Selbste, die bis zum letzten bisschen Selbstverwirklichung der "Ökonomisierung" unterworfen sind. Wie sich die Geschichtswissenschaft zu diesem sozialwissenschaftlichen Ensemble verhält, ist derweil noch nicht ausgemacht. Nina Verheyen widmet sich nun einer Leitsemantik dieses Trends: der Leistung. Deren Erforschung hat in jüngster Zeit Konjunktur und lässt die ältere Frage, ob es sich dabei um ein demokratisches oder undemokratisches Konzept handele, hinter sich. [1] Die Geschichte der Leistung erlaubt es, verschiedene, in den letzten Jahren stark beforschte Felder zu verbinden: die Geschichte der Arbeit, des Sports, die Bildungsgeschichte und die Geschichte der "Verwissenschaftlichung des Sozialen".
Verheyen wählt für ihre Darstellung die Form des engagierten Essays als Mischung aus konziser Analyse und feuilletonistischer Zeitkritik. Die Fallstricke dieses Ansatzes sind offensichtlich: Formuliert sie ein pointiertes Argument, ohne die historische Differenziertheit aus den Augen zu verlieren? Oder leidet ihr Beitrag an Kleinteiligkeit, die eine übergreifende Stoßrichtung verhindert? Was verbirgt sich hinter dem "soziale[n] Leistungsverständnis" (17), für dessen Stärkung sie auf normativer Ebene plädiert?
Mit einem Untersuchungsschwerpunkt auf dem deutschen Sprachraum eröffnet Verheyen zunächst methodische Perspektiven auf ihren Zentralbegriff: Im zweiten Kapitel legt sie über einen emotionshistorischen Zugriff dar, dass die vielbeschworene Überforderung nicht erst im "Neoliberalismus" auftrete, sondern sich in den Debatten um Selbstmorde von Schülerinnen und Schülern bereits im deutschen Kaiserreich gezeigt habe. Das "Leid an der Leistung" (50) um 1900 habe sich aber auf Gefühle wie überzogenen Ehrgeiz konzentriert, während es seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts um die richtige Nutzung der Gefühle gehe. Anschließend vollzieht Verheyen die Verwissenschaftlichung der Beurteilungspraktiken in den letzten 200 Jahren nach. Mit einer Geschichte des Zugangs zu Bildungsinstitutionen und einiger Konkurrenzpraktiken - Nobelpreise und olympische Spiele - verknüpft sie drei Überlegungen: Zuerst hebt sie darauf ab, dass erst Messtechniken Leistung konstruierten, dann darauf, wie das meritokratische Demokratisierungsversprechen Menschen ausschloss, "die nicht notwendig dümmer, aber eben keine Deutschen waren" (71). Zuletzt hätten Vermessungspraktiken systematisch die individuelle von der sozialen Dimension von Leistung getrennt.
Danach widmet sich Verheyen bürgerlichen Leistungsvorstellungen um 1800, wissenschaftlichen um 1900 und ihrer Entgrenzung nach dem Ersten Weltkrieg. Für die Zeit um 1800 sei es irreführend, ein bürgerliches Leistungsethos anzunehmen. Der Begriff trete zu dieser Zeit nicht im heutigen Sinne auf, sondern sei moralisch aufgeladen gewesen, ohne die Sphären von Arbeit und Privatheit zu trennen. Im Mittelpunkt habe die Soziabilität gestanden. Dementsprechend sei "Gesellschaft leisten" das "Elixier der Bürgerlichkeit selbst" (118). Verheyen lehnt es aber ab, dem "Neobiedermeier-Boom" (124) zu folgen und diese Auffassung wiederzubeleben: Bereits um 1800 habe dieses Ethos zu Ausschluss geführt. Trotzdem scheint hier eine Wurzel von Verheyens Bemühungen um eine Aktualisierung dieser Schlüsselkategorie zu liegen.
Für das ausgehende 19. Jahrhundert verweist Verheyen auf die bekannte Rolle der Physiologie für eine neue physikalisch-technische Idee von Leistung, die deren soziale Dimension ausgeklammert habe. Diese Tendenz als Ökonomisierung zu verstehen blende aber zwei Traditionen aus, die zu neuer Geltung gelangten: Einerseits entwickelten sich aus der mittelalterlichen Rechtstradition der Arbeitsvertrag und die Freiheit der Vertragspartner. Andererseits habe die Kategorie auch Eingang in das Vokabular des Wohlfahrtstaates gefunden und so dazu gedient, den Kapitalismus sowohl einzuhegen als auch zu befördern. Leistung sei also eine "Unschärfeformel" (152), die nicht als Ökonomisierung zu lesen sei, sondern auch ihre Beschränkung bedinge.
Mit Blick auf das 20. Jahrhundert arbeitet Verheyen die Geschichte des Steigerungsimperativs zwischen Hybris und Kollaps heraus. Die Entgrenzung der Leistung in der ersten Nachkriegszeit habe mit der physiologischen Tradition des 19. Jahrhunderts gebrochen. Dies illustriert sie anhand des entstehenden Spitzensports, der sich über das Doping auf die Fähigkeiten des Individuums konzentriert habe. Ähnliches gelte für den Bereich der Arbeit, in dem Taylorismus und Fordismus "nicht mehr auf die langfristig optimale Kraftausnutzung und -erhaltung, sondern auf kurzfristige maximale Kraftsteigerung" (178) abzielten. Dies zeige sich auch für den Nationalsozialismus, der diese Logik auf die Spitze getrieben und pervertiert habe, wie Verheyen für die Exklusionslogiken der "Volksgemeinschaft" argumentiert.
Der Band endet mit einer knappen Übersicht über die sozialwissenschaftliche Kritik, die die Leistung und Leistungsgesellschaft entschleiert und Ideen der "Kreativität und Selbstentfaltung" (193) zum Durchbruch verholfen habe. Anstatt den Begriff nun aufzugeben, plädiert die Autorin aber dafür, ihn unter linken Vorzeichen - wie im Kampf um die Arbeitszeitverkürzung - als "Hebel" gegen "marktradikale Tendenzen" (199) beizubehalten. Dieses Verständnis müsse aber seinen Konstruktionscharakter nutzen und seine soziale Dimension stärken.
Verheyen befreit sich in ihrem Essay beispielhaft von zeitgenössischen Deutungen, in denen Leistung entweder für eine große Ökonomisierung steht oder als Garant kontinuierlichen Fortschritts und von Chancengleichheit dient. Damit verkompliziert sie simple Narrative der Kritik. Dieses Vorgehen schließt an Überlegungen an, die die starre Grenze zwischen disziplinierter Arbeit des Fordismus und kreativer Arbeit des Postfordismus zu überwinden suchen. [2] Einigendes Band ist der Glaube an Produktivitätssteigerung.
Gleichzeitig changiert ihr Vorschlag eines sozialen Leistungsverständnisses offensichtlich zwischen Ideal und Analysekategorie. Sie begreift ihren Grundbegriff als "Schablone, durch die die Welt betrachtet wird, um Menschen zu hierarchisieren und zu domestizieren" (16). Mit ihr verbundene Praktiken und Techniken dienten dazu, diese "immer wieder Einzelpersonen glaubhaft zuzuordnen" (16). Implizit erscheint Leistung damit als Agent der Vergesellschaftung, der Verheyen wiederum eine vergemeinschaftende (soziale) Auffassung entgegenstellt. Mit dieser kanonisierten Dichotomie tritt die Ökonomisierung aber wieder in die Erzählung ein, denn wie sich die Grenze zwischen dem Sozialen und den "marktradikalen Tendenzen" bestimmen ließe (oder wie diese bestimmt wurde), bleibt unklar. Stellt die "Unschärfeformel" tatsächlich einen reinen Vereinzelungsapparat dar? Muss nicht auch das Verhältnis von Individuum und Sozialem als verhandelbar gedacht werden?
Insgesamt gelingt Verheyen ein Essay, der gängigen Kommodifizierungsgeschichten seit den 1970er Jahren eine überzeugend ambivalente historische Erzählung entgegensetzt und mit geläufigen Erwartungen bricht. Leserinnen und Leser können auf das angekündigte "dicke Buch mit den vielen Fußnoten" (209) nur gespannt sein.
Anmerkungen:
[1] Michael Hau: Performance Anxiety. Sport and Work in Germany from the Empire to Nazism, Toronto u.a. 2017, 217.
[2] Karsten Uhl: Humane Rationalisierung? Die Raumordnung der Fabrik im fordistischen Jahrhundert, Bielefeld 2014.
Nina Verheyen: Die Erfindung der Leistung, München: Carl Hanser Verlag 2018, 255 S., ISBN 978-3-446-25687-3 , EUR 23,00
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