Um "Bekehrungen" geht es in der Frankfurter (Oder) Dissertation von Christian Hörnlein. Damit sind weniger religiöse Umkehrvorgänge gemeint, die in der theorieüberladenen Einleitung auch zur Sprache kommen, sondern vielmehr die Hinwendung zur Sozialdemokratie. Der Autor geht von der Theorie der sozialmoralischen Milieus aus, wie sie M. Rainer Lepsius für Kaiserreich und Weimarer Republik entwickelt hat und wie sie in der Geschichtswissenschaft mit Variationen breit rezipiert wurde. Hörnlein konzentriert sich dabei auf die Zeit des Kaiserreichs, näherhin die Jahre nach dem Ende der Sozialistengesetze.
Auf dem Dresdener Parteitag von 1903 wurde eine Debatte über "bürgerliche Mitläufer" geführt. Nach den Erfolgen der SPD bei den Reichstagswahlen stellte sich die Frage nach der Bindung der Partei an ein bestimmtes Milieu, nämlich das der Arbeiter. Autobiographische Erinnerungen zeigten, dass in vielen Fällen die primäre Sozialisation die Parteibindung bestimmt hatte. Die soziale Herkunft wurde dann ratifiziert durch die Beschäftigung mit der marxistischen Ideologie. Andere Lebensberichte ließen den Weg zur Sozialdemokratie als einen Bekehrungsvorgang erscheinen. Besonders Parteimitglieder bürgerlicher Herkunft zeigten eine dreistufige Bekehrungsphase: "erstens die der Indifferenz gegenüber der Sozialdemokratie, zweitens die der Bekanntschaft und Auseinandersetzung mit dieser, drittens die der gefestigten sozialdemokratischen Identität" (223).
Innerhalb der Sozialdemokratie unterscheidet Hörnlein drei Positionen zu "Religion" in einem weiten Sinn: eine offizielle säkulare Position, einen religiösen Sozialismus als Minderheitenmeinung und die Mehrheit, die eine religionskritische Position vertrat. In dieses plurale Feld "bekehrten" sich nun Personen, die vorher ebenfalls unterschiedlichen religiösen Positionen (katholisch, evangelisch, aus der Kirche ausgetreten, konfessionslos) angehört hatten. Solche Lebensläufe konnten werbend einwirken auf Personen, die sich auf dem Weg zur Sozialdemokratie befanden.
Hörnlein behandelt auch den Weg "sozialdemokratischer Pfarrer". Zwei Beispiele bringt er dafür: Paul Göhre und Max Maurenbrecher, beide vorher im Umfeld des als "charismatischer Herrschaftsverband" (268) charakterisierten Kreises um den liberalen evangelischen Theologen Friedrich Naumann engagiert. Der evangelische Pfarrer Paul Göhre trennte sich nach einer längeren Phase der inneren Reflexion 1899 von Naumanns Nationalsozialem Verein (NSV). Im "Vorwärts" wurde diese Konversion vermeldet: "... so will nun nach vieljährigem ernsten Geistesringen Herr Göhre das neue Land betreten, wo allein die ideale Macht der Zeiterneuerung, der stets sein Hoffen galt, waltet" (343). Göhre selbst sah seinen Weg in die Sozialdemokratie in Kontinuität zum bisherigen Leben. Sein geistliches Amt aber musste er niederlegen.
Max Maurenbrecher wird von Hörnlein als "sozialreformerischer Theologe, atheistischer Sozialdemokrat, völkischer Pfarrer" (390) eingeführt. Er stammte aus dem Bildungsbürgertum, war wie Göhre Mitglied im NSV. Sein Eintritt wurde ebenfalls im "Vorwärts" begrüßt. Wie Göhre stieß er in der SPD auch auf Widerstände, die sich besonders an seiner Stellung zur Kolonial- und Rüstungspolitik festmachten und 1913 zum Austritt führten. Eine zunehmende innere Entfremdung vom Christentum ließen ihn beispielsweise Jesus "in die Reihe all der anderen Lebenskünstler, die die Religionsgeschichte kennt" (425), rücken. Zwar trat er 1917 wieder in die Kirche ein, doch wandte er sich auch nach der Wiederübernahme eines Pfarramtes völkischen und antisemitischen Gedanken zu.
Hörnleins Ansatz ist faszinierend. Er bietet eine dichte Beschreibung der Entwicklung von Personen, die eine "Konversion" erlebten. Dabei konnte es sich um eine weltanschauliche Hinwendung zur Sozialdemokratie handeln, die mit den Kategorien von Religion beschrieben werden. Hörnlein zeigt aber auch die Wege und Umwege auf, die evangelische Pfarrer zur Sozialdemokratie gingen, sie ihrer bisherigen Lebensplanung entfremdeten, ihre Religiosität neu prägten. Die sekundäre Sozialisation trug bei allen parteiinternen Konflikten auch dazu bei, das Spektrum der Mitglieder und Wähler der SPD zu erweitern. Ob dadurch eine "Verkirchlichung der Sozialdemokratie" (452) gefördert wurde, lässt sich anhand der doch relativ geringen Zahl vorliegender Beispiele nicht sicher sagen.
Hörnleins Arbeit teilt die Problematik mancher geschichtswissenschaftlicher Dissertationen. Der darstellende Teil ist breit angelegt, beginnt aber leider erst auf Seite 119. Der vorgeschaltete theoretische und begriffsgeschichtliche Teil greift noch einmal weit in die Frühe Neuzeit und den Beginn des 19. Jahrhunderts zurück, um den Begriff der Konversion zu erläutern. Hier wäre weniger deutlich mehr gewesen. Insgesamt aber ist es Hörnlein gelungen, die Aktualität des Milieukonzepts aufzuzeigen und den religiösen Aspekt als wichtig auch für das sozialdemokratische Milieu herauszustellen.
Christian Hörnlein: Abgrenzungsdebatten und politische Bekehrungen. Die Sozialdemokratie zwischen Politik und Religion im Wilhelminischen Kaiserreich (= Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Reihe: Politik- und Gesellschaftsgeschichte; Bd. 106), Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2018, 505 S., ISBN 978-3-8012-4259-6, EUR 32,00
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