Mit gewachsenem historischen Abstand zum Ende des Ost-West-Konflikts und vor dem Hintergrund der darauf folgenden und bis heute anhaltenden weltordnungs-politischen Unübersichtlichkeit hat sich der Rückblick auf den Kalten Krieg, die (durchaus doppelbödige) Entspannung zwischen Ost und West sowie die Ursachen, Begleitumstände und Folgen des Zusammenbruchs der Sowjetunion verändert. Dass sich dieser Zusammenbruch fast ganz ohne Gewalt abspielte (jedenfalls im Moment des Übergangs), obwohl doch der Ost-West-Konflikt von härtesten Auseinandersetzungen und Konflikten sowie vor allem auch von militärischer Hochrüstung samt allseitigen Kriegserwartungen und -vorbereitungen geprägt war, erscheint außergewöhnlich und hat unterschiedliche Erklärungsansätze hervorgebracht.
Als besonders aufschlussreiches Studienobjekt für alle Fragestellungen, die sich auf die Ablösung der (allerdings schon länger ausfasernden) Bipolarität des internationalen Systems durch eine machtpolitisch instabilere multipolare Globalisierung beziehen, bietet sich die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) an. Sie setzte mit der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki 1975 auf mehreren politischen Ebenen einen Prozess in Gang, der dazu beitrug, dass der Ost-West-Konflikt 1989/90 weitgehend friedlich zu Ende ging. Seit der Studie von Daniel C. Thomas über den Helsinki-Effekt aus dem Jahr 2001 [1] gibt es einen stetig anwachsenden Korpus von vor allem zeitgeschichtlicher Forschungsliteratur über die KSZE. Sie beschäftigt sich aus verschiedenen Perspektiven mit den Fragen nach den diplomatischen Vorgehensweisen der KSZE-Teilnehmerstaaten, nach dem Einfluss unterschiedlicher zivilgesellschaftlicher und transnationaler Akteure, nach den Funktionen der zahlreichen Folgetreffen, Foren und Expertentreffen, nach den jeweiligen Einschätzungen und Fehleinschätzungen der verschiedenen Akteure und nach ihren im Lauf des KSZE-Prozesses vorgenommenen Positionsveränderungen. Inzwischen gibt es so etwas wie eine internationale KSZE-Forschungs-community.
Das zeigt sich auch an dem von Nicolas Badalassi (Aix-en-Provence) und Sarah B. Snyder (Washington, D.C.) herausgegebene Sammelband mit 13 Aufsätzen plus Einführung und Ausblick über den Zusammenhang zwischen den verschiedenen Ebenen gouvernementaler KSZE-Politik (Zentrale in der jeweiligen Hauptstadt und Diplomaten vor Ort) sowie zwischen dem, sagen wir: inter-diplomatischen KSZE-Prozess. Außerdem beleuchtet er die Wechselwirkungen zwischen staatlichem Handeln und dem Agieren nicht-staatlicher Gruppen (NGOs), die jeweils unter länderspezifischen, in den sowjetsozialistischen Ländern unter repressiven Bedingungen ihre eigenen Werte und Ziele in den KSZE-Prozess einzubringen versuchten. Ein Schwerpunkt vieler Beiträge liegt dabei auf der Durchsetzung der Menschenrechte. Sie kommen in der Prinzipienerklärung und dem sogenannten Korb Drei der Schlussakte von Helsinki zur Sprache und entwickelten, zunächst wenig bemerkt, in den sowjetsozialistischen Ländern eine über die Jahre zunehmende Sprengkraft.
Die Herausgeber haben die Beiträge in drei Blöcke geordnet. Zunächst richtet sich der Blick auf die diplomatischen Aktivitäten an den verschiedenen Konferenzorten, was in drei der hier aufgeführten Aufsätze auf eine überfällige Würdigung der Leistung beteiligter Diplomaten hinausläuft. Sie hatten ja nicht nur vor Ort äußerst komplexe multinationale Abgleichungsbalancen auszuhandeln, sondern mussten vielfach, jedenfalls im Falle der westlichen Demokratien, gegen die zurückhaltende Einstellung ihrer Vorgesetzten in den Hauptstädten argumentieren. Diese wiederum hatten es oft mit einer sehr skeptischen Haltung wichtiger politischer Strömungen in Parlamenten und Öffentlichkeit zu tun. Martin D. Brown und Angela Romano sehen in den mehr als 600 Diplomaten, die direkt am KSZE-Prozess beteiligt waren, nicht nur weisungsgebundene und von ihren Zentralen an kurzer Leine gehaltene Ausführungsbeamte, vielmehr kreativ-einfallsreiche deal-maker. Ihre Ausgangsthese lautet, die KSZE-Diplomaten hätten eine Art esprit de corps ausgebildet und sich zu einer transnationalen epistemischen Gemeinschaft entwickelt. Um das zu illustrieren, analysieren sie die Kommunikation zwischen London und Paris mit ihren jeweiligen KSZE-Verhandlungsdelegationen sowie zwischen einzelnen Diplomaten verschiedener Delegationen über die "Blockgrenzen" hinweg. Dass man mit diesem Ansatz viele Entscheidungsprozesse der KSZE transparenter machen kann, wird eindrucksvoll vorgeführt, wenngleich erst noch weitere Forschungen erforderlich sind, um seine Fruchtbarkeit ganz zu erweisen.
Zwei weitere Aufsätze in diesem Kapitel beschäftigen sich mit der internen Debatte der französischen Diplomatie (Nicolas Badalassi) und mit der Rolle des amerikanischen Unterhändlers Max Kampelmann auf der Nachfolgekonferenz in Madrid von 1980 bis 1983 (Stephan Kieninger).
Der zweite Teil umfasst fünf Aufsätze, in denen es vor allem um die Rolle von Nichtregierungsorganisationen bei der Durchsetzung der Menschenrechte in den sowjetsozialistischen Ländern geht. Untersucht werden das amerikanische Committee of Concerned Scientists, das sich vor allem für die Erleichterung der Ausreisemöglichkeiten von jüdischen Wissenschaftlern aus der Sowjetunion einsetzte (Elisabetta Vezzosi), das wahrlich nicht ganz einfache Verhältnis westlicher Friedensbewegungen zu den Oppositionellen östlich des Eisernen Vorhangs (Christian P. Peterson; Jacek Czaputowicz) und die Einschätzungen östlicher Sicherheitsdienste von transnationalen Helsinki-Netzwerken (Douglas Selvage). Außerdem geht Carl J. Bon Tempo der Frage nach, wie groß der Einfluss der KSZE auf die US-Innenpolitik war, und kommt dabei zu dem Schluss, dass er erheblich geringer war als in Europa.
Im dritten Teil geht es um die Entspannungspolitik Österreichs gegenüber seinen östlichen Nachbarn in den 1970er und 1980er Jahren (Maximilian Graf), die westdeutschen Anstrengungen, die Ost-West-Entspannung auch in den schwierigeren Jahren um 1980 herum gegen hardliner in allen Lagern zu retten (Matthias Peter), um die wachsenden Differenzen zwischen der sowjetischen Führung unter Gorbatschow und der DDR-Führung in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre (Oliver Bange) sowie, eine Art Kuriosum, um die (durchwegs ablehnende) Haltung Albaniens zur KSZE (Hamit Kaba).
Ein weiter Bogen führt vom ersten Aufsatz des Bandes über die "menschliche Dimension der KSZE" aus der Feder von Andrei Zagorski zum Ausblick der beiden Herausgeber. Der KSZE-Prozess war von 1975 an mehr als nur ein zwischenstaatliches, diplomatisches Unterfangen. Er wirkte auch (unterschiedlich) tief in die beteiligten Gesellschaften hinein. Er förderte multi- und transnationales Handeln und mobilisierte vor allem in den sowjetsozialistischen Ländern auch gegen staatliche Repressionen den Anspruch auf die Verwirklichung individueller und gruppenbezogener Menschenrechte. Die ohne Ausnahme quellenmäßig solide bis außerordentlich originell und forschungsanregend geschriebenen Beiträge machen die Beschäftigung mit ihnen für alle an der KSZE und der Ost-West-Entspannung Interessierten zu einer lohnenden Lektüre.
Anmerkung:
[1] Daniel C. Thomas: The Helsinki Effect. International Norms, Human Rights, and the Demise of Communism, Princeton 2001.
Nicolas Badalassi / Sarah Snyder (eds.): The CSCE and the End of the Cold War. Diplomacy, Societies and Human Rights, 1972-1990, New York / Oxford: Berghahn Books 2019, XIV + 365 S., eine Tbl., eine s/w-Abb., ISBN 978-1-78920-026-3, USD 130,00
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