Das vorliegende Werk geht zurück auf eine im Mai 2015 an der Nationalen Universität Czernowitz (Černivci) abgehaltene Konferenz, die Fragen politischer und kultureller Loyalitäten in den historischen Regionen Bukowina, Galizien und Bessarabien während des Ersten Weltkriegs erörterte. Einleitend begründen die Herausgeber Band und Konferenz mit der Notwendigkeit, sich über die Geschichte von Konflikten und Kriegen sowie über deren Langzeitwirkungen auszutauschen, weil so neben dem wissenschaftlichen Ertrag auch ein Beitrag zur Verständigung geleistet werden könne. Angesichts der seit 2014 in der Ukraine ablaufenden krisenhaften Entwicklungen sei dies umso wichtiger. Zweifellos kann die Analyse von Nationalismen sowie damit einhergehender wirtschaftlich und kulturell begründeter Machtgefälle zum Verständnis der Gegenwart beitragen, zumal diese Nationalismen als Strukturen langer Dauer - wenn auch unter wechselnden Rahmenbedingungen - bis heute Wirkung zeigen. Sie fanden jüngst etwa in vor allem medial ausgetragenen Disputen zwischen Akteuren der Ukraine und Polens sowie der Ukraine und Ungarns ihren Ausdruck. Von besonderer Brisanz ist bekanntermaßen das Verhältnis zwischen der Ukraine und Russland.
Für die hier zu besprechende Publikation wurde der geografische Rahmen gegenüber der genannten Konferenz auf den österreichisch-russländischen Grenzraum erweitert. Es handelt sich dabei um eine Region, wo sich vor dem Ersten Weltkrieg die Ansprüche nicht nur verschiedener Staaten, sondern auch von Nationalismen, die auf die Bildung von (National-)Staaten zielten, überschnitten. Auch heute noch steht diese Region im Spannungsfeld geopolitischer Rivalitäten. Ausgehend von der insbesondere für die Moderne geltenden Erkenntnis, dass Krisen und Konflikte innerhalb und zwischen politischen, sozialen oder religiösen Entitäten bestehende (Zu-)Ordnungen in Fragen stellen und grundlegende Umwälzungen herbeiführen können, fokussieren zehn der elf Aufsätze darauf, wie Betroffene auf die Ereignisse des Ersten Weltkrieges kurz- oder langfristig reagierten. Dabei schöpfen fünf Aufsätze aus der Analyse literarischer und journalistischer Texte, aus Tagebuchaufzeichnungen und biografischen Schriften. Sechs Beiträge sind primär geschichtswissenschaftlich angelegt.
Der Band führt den Leser in die zahlreichen ungelösten Fragen und Spannungen ein, mit denen vor allem Österreich-Ungarn, aber auch Russland am Vorabend des Ersten Weltkriegs konfrontiert waren. Wie Marc Stegherr zeigt, führte die wirtschaftliche und politische Benachteiligung der Ruthenen/Ukrainer in Galizien zu mehr Unruhe als in der ungarischen Reichshälfte, wo diese Gruppe ebenfalls einen beträchtlichen Anteil an der Bevölkerung aufwies. Doch der galizische Ausgleich vom Januar 1914, der zur Erhöhung der Zahl der ruthenischen Landtagsabgeordneten führte, konnte seine Wirkung nicht mehr entfalten. In der vergleichsweise friedlichen Bukowina schätzten staatliche Stellen Teile der rumänischen Nationalbewegung als gefährlich ein. Im benachbarten Russland signalisierten die restriktive Haltung des Staates gegenüber der ukrainischen Sprache sowie antisemitische Ausschreitungen krisenhafte Prozesse. All dies deutet darauf hin, dass am Vorabend des Ersten Weltkriegs, vor dem Hintergrund ethnischer, nationaler, religiöser und wirtschaftlicher Diversität der Bevölkerungen, Zugehörigkeiten und Loyalitätsbeziehungen permanent verhandelt wurden. Wie der vorliegende Band zeigt, erfuhr dieser Prozess durch den Weltkrieg einen dramatischen Schub.
Die aus Deutschland, der Ukraine, Rumänien, Moldova, Kroatien und Österreich stammenden Autor/inn/en zeigen, wie der Krieg kurz- und langfristig Loyalitäten und Weltbilder beeinflusste. Isabel Röskau-Rydel beleuchtet unter anderem anhand von Briefen die Kriegsbegeisterung des deutschen Schriftstellers Ludwig Thoma. Hans-Joachim Hahn zeigt mit Verweis auf den aus Prag stammenden Zionisten Schmuel Hugo Bergmann, dass jüdische Intellektuelle zunächst den Krieg durchaus begrüßten und dass die Kriegserfahrung den Diskurs über jüdische Identitäten wesentlich vorantrieb. Bezugnehmend auf den 1915 von Scholem Alejchem verfassten Text The Krushniker Delegation und Israel Joshua Singers Josche Kalb (1932) geht Cristina Spinei Spuren der Auflösung jüdischer Traditionen infolge assimilatorischer Tendenzen der jüdischen Aufklärung und der physischen Vernichtung der ostjüdischen Welt im Ersten Weltkrieg nach. Andrei Corbea-Hoisie fokussiert auf Philipp Menczels pro-österreichisches Erinnerungsbuch 'Als Geisel nach Sibirien verschleppt', das der nach Russland deportierte Czernowitzer Journalist nach seiner Rückkehr im Jahr 1916 publizierte. Kati Brunner, Svitlana Kyrylyuk, Peter Rychlo und Stegherr erläutern verschiedene den Ersten Weltkrieg thematisierende literarische Texte in ukrainischer Sprache, welche die physische Gefährdung und politische Zerrissenheit der zwischen die (staatlichen) Fronten geratenen Menschen und gedachten nationalen Gemeinschaften (Ukrainer kämpften in den Armeen Russlands und Österreich-Ungarns) ausdrücken. Das Balladengedicht 'Die Brüder' von Osyp Makovej und die Erzählung 'Zwischen den Schanzen' von Antin Krušel'nyc'kzj reflektieren reale Erfahrungen der Bruderfeindschaft und des Brudermordes. Nach Brunner und Kyrylyuk befindet sich die Hauptfigur der Erzählung Juda von Ol'ha Kobyljans'ka in einem räumlichen, kulturellen und politischen "Dazwischen", das in Zeiten des Krieges zur tödlichen Falle wird.
Die den Verhältnissen nach dem Ersten Weltkrieg gewidmeten Aufsätze zeigen, dass die neuen Staaten viele Probleme der zerfallenen Imperien erbten. Mariana Hausleitner verweist auf sich ausweitende Konfliktfelder zwischen den Rumänen und Ukrainern in der Bukowina. Svetlana Suveica präsentiert in ihrem Aufsatz die letztlich nur teilweise erfolgreichen Bemühungen der Deutschen Bessarabiens, sich ihre Loyalität zu Rumänien mit staatlichen Garantien hinsichtlich Eigentumsrechten, parlamentarischer Repräsentation und lokaler Autonomie abgelten zu lassen. Last but not least sei auf den militärgeschichtlichen Beitrag von Jevgenij Paščenko zur Rolle kroatischer Verbände auf bukowinischgalizischen Kriegsschauplätzen verwiesen sowie auf den ebenso detailreichen Beitrag von Kurt Scharr über die existenzbedrohenden Schwierigkeiten von Lehrenden der Czernowitzer Universität, die mit dem rumänischen Staat keine Loyalitätsbeziehungen aufbauten, sondern im Jahre 1919 nach Österreich wechselten.
Die von den Herausgebern intendierte Verständigung zwischen divergierenden Gruppen und Interessen wird gleichsam durch den im Band praktizierten Dialog der Disziplinen unterstrichen. Das Wissen um die großen Zusammenhänge ergänzt der Blick auf individuelle Erfahrungen. Dass im Zuge der Lektüre manche neue Fragen auftauchen, kann dem Werk durchaus zugutegehalten werden. Was sagen literarische Werke polnischer, russischer und rumänischer Sprache über den Ersten Weltkrieg und seine Folgen? Erschöpft sich die deutschsprachige Publizistik und Literatur der Bukowina zum Thema in der genannten Publikation Menczels oder jener über Mayer Ebner? Dass Informationen hinsichtlich der Entstehungszeit und der Erstpublikation von Texten Osyp Makovejs (zum Beispiel Chrest pomiž lypamy, Krovave Pole), Ol'ha Kobyljans'kas und anderer ukrainischer Autoren fehlen, mag als kleiner Mangel erscheinen.
Florian Kührer-Wielach / Markus Winkler (Hgg.): Mutter: Land - Vater: Staat. Loyalitätskonflikte, politische Neuorientierung und der Erste Weltkrieg im österreichisch-russländischen Grenzraum (= Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) an der Ludwig-Maximilians-Universität München; Bd. 134), Regensburg: Friedrich Pustet 2017, 214 S., ISBN 978-3-7917-2927-5, EUR 29,95
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