Die Herausbildung philosophischer Schulen an der spätmittelalterlichen Pariser Universität, die in eine plakative Gegnerschaft zwischen via moderna und via antiqua mündete, wird in der durchgesehenen und bibliographisch aktualisierten Habilitationsschrift der Wiener Moraltheologin Sigrid Müller auf ihre Ursachen und ihre Wurzeln historisch analysiert.
Die Studie gliedert sich in sechs Kapitel, wovon das erste (17-24) anhand des benannten Schulstreits den Forschungsstand zur Moraltheologie des 15. Jahrhunderts erörtert. In den darauffolgenden zwei Kapiteln, in denen der Kern der Auseinandersetzung aufgezeigt wird, werden in chronologischer Reihenfolge sowohl zentrale Wortführer als auch Gegner der via moderna untersucht. Hierfür wählte Müller in einem ersten Schritt Pierre d'Ailly († 1420), der mit seiner Theologie und nominalistischen Philosophie einen entscheidenden Beitrag zur Entstehung der via moderna leistete (25-90). Durch die Analyse seines Werkes sowie die historische und theologiegeschichtliche Kontextualisierung zeigt Müller, dass der Streit um das Verhältnis von Theologie und Philosophie den Ausgangspunkt des Schulstreits darstellt. So resümiert sie: "Die philosophischen Unterschiede hatten den Grundstock der Auseinandersetzung gebildet, doch ausschlaggebend für die Spaltung in via moderna und via antiqua waren divergierende Prinzipien theologischer Hermeneutik." (90)
Ähnlich resümiert sie die teilweise polemische Auseinandersetzung mit den sogenannten moderni im Werk des Johannes Capreolus (1380-1444). Müller stellt heraus, gegen welche theologischen Autoritäten des Mittelalters Johannes Capreolus hinsichtlich verschiedener theologischer und philosophischer Fragen - unter anderem Allmachtsvorstellung, Unterscheidung von Intellekt und Willen, Theologie als Wissenschaft, der Begriff der Kontingenz - argumentierte: Seine "Gesprächspartner", wie sie Müller etwas harmlos bezeichnet, waren Gregor von Rimini, Adam Wodeham und Wilhelm von Ockham.
Durch die Analyse in Kapitel 2 und Kapitel 3 macht Müller ihren Standpunkt klar: Nicht die sachlichen Differenzen, sondern die methodischen Grundsätze bedingten die Auseinandersetzung. Dabei brachte die "philosophische Wende" (175) ein neues Verständnis von Wissenschaft, einen stärker semantischen Zugang und eine Hinwendung zur theologischen Praxis hervor. Letztgenanntes war das Gegenmodell zur hochmittelalterlichen, spekulativ orientierten Theologie.
Aufgrund dieser "theologischen Praxiswende" (182) fragt Müller nach den systematischen Konsequenzen des Schulstreits. Hierfür analysiert sie im vierten Kapitel die theologische Praxis als Ziel in der Theologie bei Jean Gerson (1363-1429) (181-254). Gerade in diesem Kapitel zeigt sich deutlich, wie intensiv und umfangreich Müller sich in die theologischen Diskurse der Zeit eingearbeitet hat. Sie eröffnet ein Panorama der damaligen theologischen Denkweisen und -ansätze, verweist auf Desiderate in der theologiegeschichtlichen Aufarbeitung (254) und behält dabei dennoch stets ihre spezifische Fragestellung im Blick.
Im fünften Kapitel stellt Müller die Frage nach moraltheologischen Ansätzen in der via moderna und wendet sich hierfür den philosophisch-ethischen Positionen von Johannes Buridan, Marsilius von Inghen und weiteren Wiener Ethikkommentaren zu (255-324). Vor allem die Letztgenannten erweisen sich als aufschlussreiche Quellen, die in der bisherigen Forschung eher ein Schattendasein führten. Müller zeigt anhand der Kommentare "eine indirekte Rezeption der aristotelischen Ethik" (318) auf und kommt zu der Beobachtung, dass in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ein vielfältiges Interesse an ethischen Fragen existierte. Eine systematische Grundlegung der Moralphilosophie und ihrer Methodik im Unterschied zur Theologie habe zu diesem Zeitpunkt begonnen. Neben den moraltheologischen und -philosophischen Analysen bietet Müller zudem einen tabellarischen Überblick über die verschiedenen Ethikkommentare, die an der Wiener Universität entstanden (319-324).
Im sechsten Kapitel summiert Müller ihre Beobachtungen, kennzeichnet, welche Bedeutung die via moderna für die Entwicklung der Moraltheologie im Zeitraum von 1380 bis 1450 hatte und schlussfolgert aufgrund der analysierten Quellen, dass das zentrale Motiv der institutionellen Spaltung in via antiqua und via moderna letztlich der Streit um die rechte Verwendung der Philosophie in der Theologie war (325-342). Mit dieser These interpretiert Müller den Schulstreit stark einseitig von den philosophischen Debatten her und positioniert sich deutlich in einer Linie mit ihren akademischen Lehrern.
Das große Verdienst dieser theologiehistorisch gründlich erarbeiteten Studie ist, dass sie die Pluralität moraltheologischer Ansätze aufzeigt, die aus der via moderna heraus entstanden sind. Offen bleibt am Ende der Studie jedoch, wie Müller die präzise nachgezeichnete Entwicklung in der Theologie und Philosophie des Spätmittelalters versteht: Handelt es sich um einen Bruch mit der mittelalterlichen Theologie und Philosophie oder um eine Weiterentwicklung, gleich einer Transformation? Eine Antwort, die dem Leser am Ende der Studie letztlich selbst als Aufgabe bleibt, würde auch einen wichtigen Beitrag in der reformationshistorisch relevanten und nach wie vor aktuellen Debatte liefern, ob die Reformation und ihre Theologie Bruch, Kontinuität oder doch eher ein transformatives Werden aus den (spät)mittelalterlichen Wurzeln ist. Dass an dieser Stelle der Arbeit weitergedacht werden muss, bekennt Müller am Ende der Studie selbst (337-338). Sie verweist zudem auf weitere Aufgaben für die Forschung (336-342) und fügt hinzu, dass die gezeichneten und durchaus exemplarischen historischen Linien noch weiterer Einzelarbeiten bedürfen (336-337).
Am Ende ihrer Studie eröffnet Müller einen Ausblick, wie gegenwärtige Herausforderungen aus der Perspektive spätmittelalterlicher Entwicklungen gedeutet und bewältigt werden können (343-346). Ihr knappes, jedoch präzises Plädoyer, das sie der Moraltheologie und der Kirche der Gegenwart ins Stammbuch schreibt, lautet: Es ist eines der zentralen Gebote der Stunde, dass eine Dichotomie von Alltagswirklichkeit und kirchlicher Betrachtung des Handelns vermieden wird; nur so könne einer "dialogorientierten, theologisch reflektierten und realitätsbezogenen Moraltheologie" (346) in der gegenwärtigen Gesellschaft und Kirche eine nachhaltige und aussagekräftige Stimme gegeben werden. Nach diesem aktualisierenden Fazit schließt das Literaturverzeichnis mit handschriftlichen und gedruckten Quellen (347-351) sowie die verwendete und behandelte Sekundärliteratur (352-372) an. Der Band, der in der von der Verfasserin und dem Mainzer Moraltheologen Stephan Goertz herausgegebenen Reihe "Studien der Moraltheologie. Neue Folge", aufgenommen wurde, verfügt zudem über ein Namensregister (373-375).
Sigrid Müllers Habilitationsschrift versucht deutlich zu machen, dass der Diskurs über die Rolle der Philosophie in der Theologie im Spätmittelalter einen wichtigen Beitrag für das Selbstverständnis der Moraltheologie in der Gegenwart leisten kann.
Sigrid Müller: Theologie und Philosophie im Spätmittelalter. Die Anfänge der via moderna und ihre Bedeutung für die Entwicklung der Moraltheologie (1380-1450) (= Studien der Moraltheologie. Neue Folge; Bd. 7), Münster: Aschendorff 2018, 374 S., ISBN 978-3-402-11928-0, EUR 48,00
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