sehepunkte 19 (2019), Nr. 10

Stefan Seitschek: Die Tagebücher Kaiser Karls VI.

Die höfische Politik des frühen 18. Jahrhunderts findet wieder stärkere Beachtung. Die vorliegende Monografie stellt eine wenig rezipierte Quelle vor: Die täglichen Aufzeichnungen Kaiser Karls VI., der trotz seiner dreißigjährigen Herrschaftszeit (1711-1740) nie aus dem Schatten markanterer Zeitgenossen wie Ludwig XIV., Peter dem Großen oder Prinz Eugen von Savoyen herauszutreten vermochte. Der Nachwelt blieb vor allem der Zustand von Verfall und Auflösung in Erinnerung, in dem er seine Reiche hinterließ - als Prolog der kanonischen Erzählung von den Theresianischen Reformen. Seine "Tagebücher" werden laut Buchrücken "an dieser Stelle zum ersten Mal in größerem Ausmaß ausgewertet".

Doch um es gleich vorwegzunehmen: Seitschek macht keinen Hehl daraus, dass die Quelle nicht alle Erwartungen erfüllen wird, die der Begriff "Tagebücher" womöglich bei manchem Leser erwecken könnte - die Erwartung, alle Ereignisse aus der Innenperspektive mitverfolgen, also erfahren zu können, was der nominelle Alleinherrscher bei seinen Entscheidungen dachte und fühlte. Es handelt sich eher um lakonische Notizen. Der Autor des Buches - das eine erläuternde Inhaltsangabe darstellt und keine Quellenedition - hat die von ihm besonders intensiv ausgewerteten sechs Jahrgänge 1720-1725 bereits vollständig ins Reine geschrieben und hofft nun auf die finanzielle und institutionelle Unterstützung, um sie wie den Rest der Quelle irgendwann im Internet publizieren zu können. In der vorliegenden Arbeit werden die einzelnen Informationen unter Rubriken ("kaiserliche Familie", "Wiener Hof", "Fest und Alltag am Hof", "historische Ereignisse 1720-1725", "Habsburgermonarchie") geordnet und die Frage nach dem Genre und der Funktion der Quelle möglichst genau bestimmt.

Seine Aufzeichnungen für 1716 überschrieb der Kaiser so:

"Calendter v(or) das jahr 1715, in welchen aufgeschriben, was v(on) tag zu tag in allen undt all(es) grosß und klein ceremonie, hoff, kirchensachen, ausgangen, in negociis publicis, politicis, belli, provincialibus, domesticis, gehaimern haus undt anderen reservirt wichtigen, auch particolar confid(ent) sachen sich daz ganze jahr hindurch zugetragen hat. Eben dieser calendter wie oben v(or) d(as) jahr 1716." (29)

Diesen Kalender führte er von 1707 an mit wenigen kurzen Unterbrechungen bis zu seinem Tod 1740. Die täglichen, stets eindeutig datierten Einträge umfassen dabei nur selten mehr als wenige Zeilen. Insgesamt füllen sie 18 Hefte mit durchschnittlich etwa 30 Seiten. Die kurzen, in keinem Satzgefüge stehenden Eintragungen sind auch dann schwer zu lesen, wenn sich Karl keiner Geheimschrift bediente. Letztere scheint Seitschek noch nicht entziffert zu haben - jedenfalls will er nicht ausschließen, diese Passagen könnten Hinweise auf Liebschaften enthalten (23).

"Längere Einträge in narrativer Form" verfasste Karl nur nach Todesfällen nahestehender Personen (16). Das Tagebuch erhob also "nicht den Anspruch, ein literarisches Kunstwerk zu sein", es dokumentierte schlicht den äußeren Tagesablauf sowie "unmittelbare Eindrücke". Immerhin notierte beziehungsweise "illustrierte" der Kaiser immer wieder seinen "Gemütszustand", "seine Meinung", seinen"Seelenzustand, also wenn er melancholisch oder üblen Humors war", sowie "seinen körperlichen Gesundheitszustand" (23f.).

Generell blieb der Inhalt "mehr von alltäglicher Routine bestimmt als von politischen Ereignissen". Der Kaiser notierte, dass Verhandlungen geführt und Schriftstücke erstellt wurden, ohne auf deren Inhalt näher einzugehen - nach Seitscheks Vermutung vornehmlich zur "Dokumentation seiner Arbeitsleistung", um sich im Einklang mit "dem barock-habsburgischen Selbstverständnis eines Herrschers" "als fromm, streng und hart arbeitend" präsentieren zu können (25).

Wohl aufgrund ihrer schwierigen Lesbarkeit zitiert das Buch die Quelle nur in knappem Umfang. Anlässlich der Verhandlungen mit seinem Schwiegersohn über dessen Verzicht auf Lothringen (2. März 1736), schrieb der Kaiser beispielsweise: "na(c)hmit(tag) zetl Parten(stein) weg(en) herz(og), sovrain will, nichts thun, nb hofc(anzler) acht drin, nb sein leut ubel sehen fridt, endten, na(c)her k(ai)s(erin) eben diser sagt erz(herzogin), irr, fest souv(erän) sonst nichts, tot her(zog), nb selbst zu mir komen, r(e)dt ganz irr, ich ernst, lib, r(e)dt, vorstell was thu(n), ein haus, er sich selbst schadten, standt fr(ie)dten, aus machen, etc., ich stark, so bliben, na(c)her Parten(stein) komen, lang, dessen ant(wort) weg(en) redt, morgen fortgehen, sonst ubel, r(e)dten." Kaum ein Leser wird Seitscheks Erläuterungen für überflüssig halten: "Der Herzog verwies offensichtlich darauf, dass er durch die Friedensvereinbarungen erst nach dem Tod des Großherzogs der Toskana wieder einen souveränen Status innehaben würde. Karl VI. bemühte wiederum den Gedanken an das gemeinsame Haus und dessen Nutzen." (202)

Dennoch lässt sich anhand solcher Passagen der Wert der Quelle für die künftige Forschung sichtbar machen. Wie eine Art "Logfile" könnten die Notizen Historikern dabei helfen, viele oft in zweifelhafter anekdotischer Form überlieferte (und entsprechend verzerrte) Vorgänge wieder in originale Kontexte zurückzuordnen und anhand zuverlässiger Quellen zu überprüfen. Hatte etwa Andreas Pečar vor Jahren darüber geklagt, dass man bei der Darstellung der Mächtekonstellationen des Kaiserhofes auf Berichte von Gesandten und Diplomaten angewiesen sei, anhand derer "sich nicht mehr rekonstruieren" lasse, "in wie viel Fällen eine persönliche Einflußnahme erfolgte", da "die Gespräche zwischen seinem Kaiser und seinem Favoriten" "keinerlei Spuren hinterließen, die uns über deren Inhalt Aufschluss geben könnten" [1], so hält Seitschek ihm nunmehr entgegen: "Gerade die Tagebücher vermögen dies jedoch zuverlässig und über die gesamte Regierungszeit Karls VI., auch wenn die mit den Ratgebern behandelten Themen oft nur schlaglichtartig genannt werden." (214) Seine Schlussfolgerung lautet, dass "die Notizen Karls VI. für den Zeitraum von mehreren Jahrzehnten Einblicke in die Gedankenwelt des Kaisers und damit einer der maßgeblichen Persönlichkeiten der europäischen Politik der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ermöglichen" und "trotz deren Kürze und fehlender Satzstruktur sich bei einer Kontextualisierung der Aufzeichnungen Erkenntnisse zur allgemeinen Politik gewinnen lassen." (476)

Dem stimmt der Rezensent zu. Allerdings hält er die von Seitschek immer wieder erörterte "Frage nach der Persönlichkeit des Kaisers" nach Lektüre dieses Buch für einstweilen erschöpft. Nicht ohne Erleichterung hat er zur Kenntnis genommen, dass Karl "wohl eine ruhige, organisierte und kontrollierte Persönlichkeit gewesen sein muss", uns "durchaus als Individuum mit Emotionen und Einschätzungen entgegentritt" (91) und "durchaus Herr seiner Entscheidungen gewesen zu sein scheint (484). Doch wenn sich der Herrscher nicht deutlicher profilieren wollte, werden Historiker ihre Aufmerksamkeit eben mehr auf seine Umgebung, auf den Hof richten müssen - wozu sie künftig eben Karls Tagebuch, da es nun einmal existiert, routinemäßig heranziehen sollten. Es könnte dann für die Forschung zum Hof in Wien eine ähnliche Rolle spielen wie etwa die "Feldjournale" der Zaren für Petersburg oder die private Chronik des Herzogs von Luynes für Versailles.

Zweifellos vergrößert Seitscheks Monografie unser Wissen über die 1720er-Jahre. Das Kapitel zur Außenpolitik enthält manche wertvollen Ergänzungen zur sonst greifbaren Literatur - insbesondere hinsichtlich der Reichs- und der Religionspolitik des Wiener Hofes bzw. seines Verhältnisses zum Papst. Das (bei vergleichbaren Neuerscheinungen heute leider nicht mehr selbstverständliche) Namensregister wird manchem Forscher helfen, schon jetzt von der enormen Fülle der in der Quelle enthaltenen Einzelinformationen zu profitieren.

Zur Bettlektüre taugt das Buch indessen nicht. Viele Informationen werden mit der angestrebten Internet-Publikation der Quelle, so sie zustande kommt, obsolet werden. Der Rezensent hätte es besser gefunden, wenn der Autor die Wartezeit bis dahin durch weniger detaillierte, aber dafür deutlichere Gesamtaussagen über die gesamte Epoche Karls VI. verkürzt hätte. So oder so erweckt das Buch Interesse auf eine vernachlässigte Quelle. Die baldige Verwirklichung von Seitscheks Publikationsvorhabens wäre der Frühneuzeitforschung in jedem Fall sehr zu wünschen.


Anmerkung:

[1] Andreas Pečar: Favorit ohne Geschäftsbereich. Johann Michael Graf von Althann (1679-1722) am Kaiserhof Karls VI, in: Der zweite Mann im Staat. Oberste Amtsträger und Favoriten im Umkreis der Reichsfürsten in der Frühen Neuzeit, hg. von Michael Kaiser, Berlin 2003, 338.

Rezension über:

Stefan Seitschek: Die Tagebücher Kaiser Karls VI. Zwischen Arbeitseifer und Melancholie, Horn: Verlag Ferdinand Berger & Söhne 2018, 541 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-85028-856-9, EUR 29,90

Rezension von:
Lorenz Erren
Historisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität, Mainz
Empfohlene Zitierweise:
Lorenz Erren: Rezension von: Stefan Seitschek: Die Tagebücher Kaiser Karls VI. Zwischen Arbeitseifer und Melancholie, Horn: Verlag Ferdinand Berger & Söhne 2018, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 10 [15.10.2019], URL: https://www.sehepunkte.de/2019/10/32536.html


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