Eva Lettermanns 2018 im Peter Lang Verlag erschienene, auf die Dissertation von 2016 zurückgehende Monografie "Täterhandeln im Nationalsozialismus. Ein Unterrichtsmodell zum historischen Lernen über die Shoah" nimmt sich eines - zumindest im Unterricht immer noch - unterrepräsentierten Themas an. Lettermann, die als Lehrerin in Nordrhein-Westfalen arbeitet, konfrontierte ihre Schüler_innen mit sechs eher unbekannten, sogenannten 'Schreibtischtäter_innen', die in den Niederlanden an der Durchführung der Shoah beteiligt waren. Lettermann bietet den Leser_innen eine breite und gut rezipierte Forschungsliteratur sowie einen nahezu fehlerfreien, sehr gut lektorierten, schön gesetzten und gebundenen, sprachlich ansprechenden Band. Die Dissertation fügt sich ein in eine Reihe fachdidaktischer Publikationen und Studien, in denen die Rolle von Täter_innen im Geschichtsunterricht verhandelt wurde. Immer noch einschlägig ist hier Zülsdorf-Kerstings 2007 erschienene Studie "60 Jahre danach. Jugendliche und der Holocaust". Daneben liegen aus dem Umkreis der Gedenkstättenpädagogik natürlich zahlreiche Materialien, Methodenvorschläge und Praxisbeispiele vor, die aber ebenso wie die Forschungslage in Geschichtsdidaktik und Geschichtswissenschaft von Lettermann rezipiert und dargestellt werden.
Historiker_innen, die zu Täter_innen im Nationalsozialismus arbeiten, dürften sich über die gut recherchierten Biografien der relativ unbekannten Personen freuen: Zu Wilhelm Harster, Wilhelm Zopf, Gertrud Slottke, Ferdinand aus der Fünten, Franz Fischer und Hans Georg Calmeyer liegen hier interessante biografische Recherchen vor, die sich unter anderem auf Gerichtsakten aus der Nachkriegszeit beziehen und Einblick in persönliches Schulderkennen und -eingestehen geben. Die Sachanalyse des Unterrichtsgegenstands zeugt somit von einer profunden Recherche und einer zielführenden Auswahl, die sich im dann entwickelten Unterrichtsmodell als tragfähig erweist. Besonders spannend ist die Idee, den Schüler_innen mit der Person Calmeyer, der circa 3500 jüdische Menschen durch eine positive "Abstammungsüberprüfung" gerettet hat und dem der Titel 'Gerechter unter den Völkern' verliehen wurde, die individuellen Handlungsspielräume historischer Akteure noch stärker zu verdeutlichen.
Im Anschluss an die Überlegungen Noa Mkaytons aus Yad Vashem setzt Lettermann "kognitive Empathie" als Leitgedanken der Arbeit (170). In dem von ihr entwickelten Unterrichtsmodell sollen die Schüler_innen anhand der Biografien die Handlungsspielräume historischer Akteure erforschen und beurteilen sowie zur Selbstreflexion angeregt werden (ebenda). Es wird in den Ausführungen vor allem in den Kapiteln fünf und sechs deutlich, wie Lettermann als Lehrerin vorgeht und unterrichtet, die Beschreibungen hierzu sind anschaulich und praxisnah. Teilweise werden aber über die Arbeit an den Biografien hinausgehende Schwerpunkte gesetzt (beispielsweise eine sehr detaillierte Beschreibung, mit welchen sehr bunt gemischten Eingangszitaten die Lerngruppe im Einstieg arbeitet (350-351)), die nicht immer in dieser Länge nötig wären. In der Beschreibung einer Unterrichtsstruktur wie sie beispielsweise in einer zweiten Staatsexamensarbeit gefordert wird, wären diese Ausführungen durchaus angebracht, in einer Dissertation hätten diese kursorischer ausfallen dürfen.
Die mit 499 Seiten recht umfangreiche Arbeit gliedert sich kleinteilig in neun Teile, wobei die Kapitel drei "Fachdidaktische Grundlagen zur Auseinandersetzung mit individuellem Täterhandeln" und vier "Tatorte und Täter" bereits mehr als 250 Seiten umfassen, bevor auf Seite 327 schließlich die Konzeption des Unterrichtsmodells beginnt. Etwas langwierig lesen sich dabei einzelne Ausführungen zu und Zusammenfassungen von fachdidaktischen Grundlagen wie etwa die zu existierenden Kompetenzmodellen. Auch inhaltlich merkt man, dass die Mehrgliedrigkeit des behandelten Gegenstandes (Fachwissenschaft zu Täter_innenforschung, eigene Recherchen der Quellen und biografisches Arbeiten, Grundlagen der (Geschichts-)Didaktik, Unterrichtsmodell, Praxis, Reflexion et cetera) eine gewisse Schwierigkeit mit sich bringt: Es wird nicht leicht sein, für diese Publikation einen klaren Adressatenkreis zu finden. Sowohl Fachwissenschaftler_innen, Fachdidaktiker_innen, als auch praktizierende Lehrer_innen sehen sich mit langen Teilen konfrontiert, die jeweils wenig bereichernd für das jeweilige eigene Erkenntnisinteresse sind. Mehrfach betont die Verfasserin selbst den "Hybridcharakter" der vorliegenden Dissertation, und mit dem Bewusstsein über die Problematik liegt sie ganz richtig. Letztlich bleiben die in der Publikation vermischten Aspekte zu sehr nebeneinander stehen. Die Teile zur Täter_innenforschung wären sicherlich als bereits sehr ergiebige Grundlage für eine fachwissenschaftliche Dissertation ausbaubar gewesen. Genauso vorstellbar wäre ein geschichtsdidaktisch explizit empirisches Vorgehen gewesen, das belegbare Aussagen von Schülern_innen zu Täter_innen als Unterrichtsgegenstand produziert. Auch dies wäre ein spannendes Buch geworden. Dem dritten Baustein des Hybrids, dem Unterrichtsmodell zum historischen Lernen über die Shoah, wird die Arbeit ebenfalls nicht ganz gerecht, als kein_e Kolleg_in mit der hier vorliegenden Veröffentlichung das spannende und sicherlich bereichernde Unterrichtsmodell durchführen könnte, da die konkreten Unterrichtsmaterialien fehlen.
Die Offenlegung der eigenen biografischen Beziehung der Autorin zu einem der Täter und zum Nachlass desselben als eigentlichen Ausgangspunkt für die Nachforschungen ist durchgehend gelungen. Interessante und bisher unveröffentlichte Quellen, die in Auszügen zitiert werden, wie Briefe aus dem Gefängnis in der Nachkriegszeit, befinden sich im Privatbesitz der Autorin. Unklar bleibt leider, warum die Doppelrolle als Forscherin und Lehrerin nicht besser methodisch genutzt wird. Lettermann reflektiert zwar ihre Rolle und versucht dies an mehreren Stellen zu rechtfertigen, wendet es jedoch nicht produktiv. Die Erforschung des eigenen Unterrichts mit dem Ziel der Verbesserung desselben (Lettermann versteht ihre Dissertation selbst als "Beitrag zur Unterrichtsforschung" (26)) nennt man Aktionsforschung und hier gibt es eine breite Literatur- und Studienlage, auf die sie hätte rekurrieren können. Leider finden sich außerdem die genutzten Fragebögen nicht im Anhang und auch eine systematische Auswertung fehlt. Eine bessere methodische Kontextualisierung und ein Studiendesign, das die ja durchaus vorhandenen empirischen Anteile systematisch nutzt und auswertet, hätten meines Erachtens zur Qualität der Arbeit im Sinne einer fachdidaktischen Forschungsarbeit beigetragen.
Insgesamt steckt in der Publikation aber eine beeindruckend große und gründliche Archivarbeit und wissenschaftliche Recherche, die als Grundlage für propädeutisches Arbeiten der Schüler_innen in hohem Maße motivierend sein wird und so in der alltäglichen Schulpraxis den meisten Kolleg_innen kaum möglich ist. Teile der Veröffentlichung sollten unbedingt für die Schulpraxis nutzbar gemacht werden. Es wäre daher unbedingt wünschenswert, wenn die Verfasserin die von ihr aufwändig recherchierten und erstellten Materialien in einem praxisnahen Verlag veröffentlichen würde, damit andere Lehrer_innen ebenfalls die Möglichkeit haben, mit den Biografien der Täter_innen zu arbeiten.
Eva Lettermann: Täterhandeln im Nationalsozialismus. Ein Unterrichtsmodell zum historischen Lernen über die Shoah (= Geschichtsdidaktik diskursiv - Public History und Historisches Denken; Bd. 6), Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2018, 499 S., ISBN 978-3-631-74768-1, EUR 84,95
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