Die Klimadebatte dreht sich im Kern um die wirtschaftliche Grundlage moderner Gesellschaften. Wie kann die Produktion ökologisch nachhaltig und zugleich sozialverträglich gestaltet werden? Reicht dazu ein "green new deal" aus oder bedarf es doch einer postkapitalistischen Gesellschaft, weil das herrschende Wirtschaftssystem "die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter" [1]? Weist etwa die Wachstumskritik der Degrowth-Bewegung einen Ausweg aus dem Dilemma? Diese aktuellen Fragen werden allzu oft ohne historischen Tiefgang diskutiert.
Das neue Buch von Lutz Raphael liefert den analytischen Hintergrund zur Entwicklung und Veränderung der wirtschaftlichen Grundlage westeuropäischer Gesellschaften zwischen 1970 und 2000. Zugleich markiert es den Endpunkt der vor gut einem Jahrzehnt begonnenen "Nach dem Boom"-Debatte über die 1970er Jahre, [2] die zweifellos zu den wichtigsten Debatten in der jüngsten Zeitgeschichtsforschung gehört. Somit ist ein Resümee durch einen ihrer intellektuellen Protagonisten wünschenswert und folgerichtig.
Die auf den Frankfurter Adorno-Vorlesungen von 2018 basierende Monographie weist aber keineswegs nur einen resümierenden Charakter auf. Sie steckt zugleich den Rahmen für zukünftige Forschungen ab. Folglich ist das neue Buch Abschluss und zugleich Neubeginn einer intellektuellen Auseinandersetzung.
Der erste von zwei großen Bereichen, "Die Vogelperspektive", zeichnet die makrohistorischen Umbrüche wie die sich verändernden nationalen Arbeitsordnungen nach, während die sich anschließenden "Nahaufnahmen" die Verschiebungen in den Erfahrungsräumen und Erwartungshorizonten der Lohnabhängigen auf der Meso- und Mikroebene in den Fokus rücken.
In jedem der Unterkapitel vergleicht der Autor die Entwicklungen in den drei größten Volkswirtschaften Westeuropas: Großbritannien, Frankreich und Bundesrepublik Deutschland. Der Erkenntnisgewinn dieser Verflechtung geht über separate Länderstudien weit hinaus. Dadurch gelangen zusätzlich zu den länderspezifischen Faktoren die transnationalen Strukturwandlungsprozesse in den Blick. Die einzelnen Kapitel leuchten die Veränderungen in allen Lebens- und Arbeitsbereichen aus. Dabei legt Raphael den Schwerpunkt auf fünf Bereiche: die politische Ökonomie, die rechtlichen Regulierungen, die Wissensgeschichte, bedeutsame (Einzel-)Ereignisse und die sozialräumliche Dimension.
Der Autor fokussiert durchgängig auf die Lebensumstände der Lohnabhängigen. Damit werden vor allem die Verlierer und die Kosten des Fortschritts beleuchtet, also sozialer Abstieg, steigende Ungleichheit und Marginalisierungsprozesse. Die partielle Deindustrialisierung sei aber weder geradlinig noch konfliktfrei abgelaufen, sondern habe unzählige Arbeitskämpfe provoziert. Diese Konflikte, so Raphaels Plädoyer, sollten wieder stärker Eingang in die zeithistorische Forschung finden.
Um ein möglichst umfassendes Bild der mannigfaltigen Entwicklungen zu zeichnen, changiert das Buch beständig zwischen der Makro-, Meso- und Mikroebene, variiert die Vergleichskategorien und Betrachtungsobjekte von Ländern über Regionen hin zu Betrieben, Haushalten und individuellen Lebensläufen. Es bedient sich unterschiedlicher theoretischer Bezüge von französischen Philosophen und Ethnologen bis zu deutschen Arbeitssoziologen. Dieses Vorgehen ist, wie der Autor selbst einräumt, im besten Sinne eklektisch. Die vielfältigen Referenzen verbindet Raphael durch eine sozialtheoretische Prämisse: "Ich betrachte Arbeit nach wie vor als einen Knotenpunkt sozialer Strukturbildungen, und zwar sowohl im Untersuchungszeitraum als auch in der Gegenwart. Sozioökonomische Lagen, aber auch soziale Inklusion und Teilhabe waren und sind über Arbeit als Erwerbstätigkeit und als Beruf bestimmt, kulturelle und politische Gruppenbildungen und Positionen wurden von Arbeitserfahrungen geprägt beziehungsweise sind durch sie beeinflusst." (30)
Die Untersuchung basiert auf einer beeindruckenden Materialgrundlage. Beispielsweise zieht der Autor zusätzlich zur kritischen Sekundäranalyse zeitgenössischer empirischer Sozialforschung die Sozialdaten des sozio-oekonomischen Panels (SOEP) heran.
Der industrielle Sektor habe in allen westeuropäischen Staaten im Untersuchungszeitraum an Gewicht verloren, diese Entwicklung sei aber in den einzelnen Ländern äußerst unterschiedlich vonstattengegangen. Folglich lasse sich nicht von einem linearen Verlauf hin zu einer postindustriellen Gesellschaft sprechen. In globaler Perspektive sei ohnehin keine Deindustrialisierung festzustellen, sondern eine geographische Verlagerung des produzierenden Gewerbes nach (Süd-)Ostasien.
Raphael diskutiert, wie die Mikroelektronik die Produktion veränderte und wie der Wandel im internationalen Finanzsystem die Gewichte im kapitalistischen System verschob. Seit Mitte der 1970er Jahre habe sich mit der Shareholder Value-Ökonomie ein globaler Finanzmarktkapitalismus herausgebildet. Diese Umbrüche hätten sich auf die Form der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und die bestehenden Sozialstrukturen ausgewirkt sowie neue ideologische Legitimationen hervorgebracht. So sei Flexibilität in allen Lebensbereichen als das Allheilmittel für die neuen Herausforderungen präsentiert worden, während die soziale Wirklichkeit der lohnarbeitenden Bevölkerung mit ihren Problemen und Konflikten zunehmend aus dem medialen Blick geraten sei. Die Analysekategorien der Wissenschaft hätten sich verschoben und die politischen Formate gewandelt. Darüber hinaus seien die bisherigen Sozialmilieus erodiert. Damit habe sich die jahrzehntelange Bindung der Industriearbeiterschaft an sozialdemokratische oder kommunistische Parteien aufgelöst. Die dadurch hervorgerufene Repräsentationskrise wirke bis in die Gegenwart und sei eine der Ursachen für den Aufschwung (rechts-)populistischer Gruppierungen.
Der Entwicklung der Löhne und Entgeltsysteme weist Raphael großes Gewicht zu. Die Kürzungen der mit Lohnarbeit verbundenen sozialen Leistungen habe eine Krise der Sozialbürgerschaft mit weitreichenden sozioökonomischen Implikationen evoziert. Der Arbeitsmarkt und die tarifrechtlichen Regelungen hätten sich weiter ausdifferenziert. In einem Segment seien prekarisierte Bedingungen mit geringer Entlohnung entstanden, ohne gewerkschaftliche Repräsentation und klare Berufsperspektiven. Zwar habe sich keine "postindustrielle Wissensgesellschaft" entwickelt, aber durchaus hätten sich die im Erwerbsleben erforderlichen Fähigkeiten verschoben und postindustrielle Bildungsideologien eine bislang unbekannte Prägekraft entfaltet. Dadurch sei die bisherige Wissensordnung in Frage gestellt worden.
Im zweiten Großkapitel fokussiert Raphael die Lebensverläufe einfacher "Malocher", die trotz der Oral History in der Zeitgeschichte nahezu keine Rolle spielten. Er beschreibt, wie sich die bisherigen Erwerbslaufbahnen und die damit einhergehenden Erwartungen ab 1970 mehr und mehr auflösten. Die sozioökonomischen Brüche wirkten sich ebenfalls massiv auf die betrieblichen Ordnungen aus und veränderten regionale, lokale und kommunale Strukturen.
Vor allem der Niedergang monoindustriell geprägter Gegenden in den drei untersuchten Ländern ließ nicht nur die Arbeitslosigkeit ansteigen, sondern zerstörte auch die gewachsenen Sozialräume. Diese Umbrüche machten sich bis in einzelne Stadtviertel und Wohnquartiere bemerkbar. Vorstädte wie die Pariser Banlieues waren jahrzehntelang bedeutende Zentren linker politischer und gewerkschaftlicher Kultur. Diese Dominanz löste sich ebenso auf wie sich die demographische Zusammensetzung vor Ort änderte.
Im abschließenden Teil unterstreicht Raphael den analytischen Wert einer gesellschaftsgeschichtlichen Betrachtung der komplexen Deindustrialisierungsprozesse, um die heutige Situation zu verstehen. Trotz aller länderübergreifenden Veränderungen warnt er zugleich eindringlich vor einer eindimensionalen Sicht auf die Jahre von 1970 bis 2000. Ungeachtet aller Kontinuitätslinien plädiert er dafür, diese Phase als eigenständige Epoche zu fassen. Die Zeitgeschichte als Problemgeschichte der Gegenwart müsse sie zukünftig noch genauer untersuchen, um die gegenwärtigen Konstellationen vom Niedergang der Sozialdemokratie über die Umbrüche auf dem Arbeitsmarkt bis zu den hegemonialen Ideologien in den Medien wie in der Wissenschaft auszuleuchten.
Raphael hat ein anregendes Werk vorgelegt, das die an Gegenwartsfragen interessierte Zeitgeschichte noch intensiv beschäftigen dürfte. Er beschreibt die tiefgreifenden sozioökonomischen Umbrüche auf der Makroebene und deren Auswirkungen auf die Lebensumstände der einfachen Bevölkerung in drei Nationalstaaten. Schon diese Verbindung stellt eine hohe darstellerische Leistung dar. Darüber hinaus ist ein Buch selten sowohl ein gelungener Abschluss einer Debatte als auch ein Anstoß für eine kommende zeitgeschichtliche Auseinandersetzung. Abschließend ist deshalb zu präzisieren: die Phase "Nach dem Boom" dauert an; lediglich der erste Teil der Debatte über die Umbrüche seit 1970, die die Gegenwart bestimmen, ist abgeschlossen. Den Stellenwert der kritischen Gesellschaftsgeschichte dabei unterstreicht Lutz Raphael mit seinem neuen Werk bravourös.
Anmerkungen:
[1] Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Band 1, Leipzig 1867, in: Karl Marx / Friedrich Engels: Werke, Band 23, 11-802, Berlin (Ost) 1962, 530.
[2] Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, 3. Aufl., Göttingen 2012.
Lutz Raphael: Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Berlin: Suhrkamp 2019, 526 S., ISBN 978-3-518-58735-5, EUR 32,00
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