Der Kunsthistoriker Christian Kravagna bespricht in seinem Buch "Transmoderne. Eine Kunstgeschichte des Kontaktes" die Globalisierung der Kunst als keine geografische Angelegenheit zwischen Zentrum und Peripherie, sondern als eine anti-rassistische Kritik am Universalanspruch der hegemonialen Institution des 'Weißen Mannes'. Anhand verschiedener Fallbeispiele interveniert Kravagna in die kanonisierten Diskurse des Faches und zeigt mit seiner wegweisenden Studie das befreiungspolitische Potential der Dezentralisierung der Kunst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf, die der Autor an anti-rassistische und global miteinander verwobene Widerstandsbewegungen anbindet und sie so zentral als einen Motor für die Künste herausarbeitet.
Kravagnas hegemoniekritischer Ansatz grenzt sich von der "Exklusionslogik der westlichen Moderne und ihrer globalen Distributionslogik unter den Vorzeichen der 'kolonialen Matrix der Macht'" (16) ab. Dasselbe gilt für Rezentralisierungserscheinungen innerhalb der neueren Global Art History, wie sie etwa durch die Fixierung auf das Jahr 1989 und die Pariser Ausstellung "Magiciens de la Terre" vorangetrieben werden. Diese Fixierung verbirgt, so der Autor, ältere globale Austauschprozesse von dekolonialen Widerstandsbewegungen als eine kritische Alternative zur "westlich-weißen Internationalität der Euromoderne". Kravagna zeigt in der Einleitung, wie der strukturelle Rassismus der europäischen Moderne es verhinderte, dass sich erfolgreiche transkulturelle Kontakte zwischen Künstler*innen etablieren konnten. Er benutzt das Motiv des Kontaktes, um produktive Momente des transkulturellen Austausches, die "über divergente Erfahrungen hinweg befreiungspolitisch relevante Artikulationen einer anderen Moderne" (9) hervorbrachten, in den Fokus zu stellen.
Viele historische Momente des Kontaktes, die Kravagna für die acht Kapitel des Buches auswählte, werden durch geteilte Marginalisierungs- bzw. Exilerfahrungen der Beteiligten konstituiert und thematisieren - neben der indischen Unabhängigkeitsbewegung - vor allem amerikanische Kontexte. Die Erfahrung von struktureller Marginalisierung habe Austausch und Solidarität jenseits von normativen Zugehörigkeiten wie Nation, race, Geschlecht oder Religionszugehörigkeit ermöglicht. Als Beispiele sind die Kapitel zur "jüdisch-afroamerikanischen Koalition" von Zora Neale Hurston mit Melville J. Herskovits (Kapitel 4), zum Austausch exilierter Surrealist*innen mit Aimé Césaire und Wifredo Lam (Kapitel 7), zu der Verbindung des deutschen Malers Winold Reiss mit Harlem Renaissance Philosoph Alain Locke (Kapitel 5) oder das Kapitel zu dem Kontakt von theosophisch-orientierten Europäer*innen wie Stella Kramrisch und Ernest Havell zur indischen Unabhängigkeitsbewegung (Kapitel 2) zu nennen. Im sechsten Kapitel beschreibt Kravagna wie die Reinheitsvorstellung einer modernistischen Kunsttheorie, die klare Grenzziehungen zwischen autonomen Kunstgattungen postulierte, auf einer rassistischen Logik der Ab- und Ausgrenzung beruht. Das Kapitel bildet so ein Gegenstück zu Kapitel 3, in dem Kravagna das Diskursfeld verschiedener Transkulturalismen von Autoren wie Fernando Ortiz, Gilberto Freyre oder Melville J. Herskovits skizziert. Das letzte Kapitel des Buches setzt sich mit dem Gemäldezyklus "The Art of the N****" des Malers Hale Woodruffs als eine frühe Form der transkulturellen Kunstgeschichtsschreibung auseinander.
Viele der ausgewählten Fallbeispiele integrieren Weiße Akteur*innen als einen fundamentalen Bestandteil der beschriebenen Kontaktsituationen. Durch die Selektion dieser spezifischen Fallbeispiele wird zwar eine Abgrenzung entlang der historisch-rassistischen color-line aufgebrochen, jedoch ebenso indirekt eine gewisse Affinität zu Schwarz-Weißem Austausch in den Diskurs der Transmoderne eingeschrieben. Es stellt sich so die Frage nach weiteren Beispielen für Kontakt und Solidarität, die ohne einen Weißen Bezug auskommen, und die Idee einer Transmoderne verstärkt über intersektionale Konfigurationen von Klasse, Sexualität und Geschlechterrollen verfolgen. Sind zum Beispiel Austauschprozesse zwischen queeren und heterosexuellen Akteur*innen innerhalb der Harlem Renaissance nicht ebenfalls ein revolutionärer befreiungspolitischer Kontaktmoment der Geschichte, der über normierte hegemoniale Grenzziehungen hinausgeht und so neue transmoderne Beziehungs- und Kunstformen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etablierte? Ist die neue Solidarität der Afroamerikanischen Anthropologin und Schriftstellerin Zora Neale Hurstons mit Haitianer*innen aus den unteren Schichten weniger konstituierend für den Diskurs der Transmoderne als ihr konfliktreicher Austausch mit Weißen Akademiker*innen wie Boas und Herskovits?
Michel-Rolph Trouillot beschreibt wie jede Form der Geschichtsschreibung eigene Leerstellen produziert, in denen verschiedene Stimmen zum Schweigen gebracht werden. [1] Es ist daher nicht unbedeutend, welche Beziehungen und Körper wir für unsere historischen Narrative priorisieren und welche intersektionalen Dialoge als Nebenargumente oder stille Wegbegleitung in den Fußnoten aufgenommen werden. Kravagnas dekoloniales Programm aufgreifend, ließe sich weiter fragen, ob durch konstante Referenzen zu Weißen Akteur*innen im Diskurs der Globalkunst auf ungewolltem Wege doch eine Form dessen aufrechterhalten wird, was Sara Ahmed am Beispiel des Films "Der mit dem Wolf tanzt" als "Progressiven Rassismus" beschreibt:
"What is progressive about it? Well it is an attempt to offer an alternative to the brutal racism of the classical Western. Here the natives are not presented as a homogeneous mass that threatens the white settler subjects - whose lives and happiness depend on their elimination. They are given names and faces. The film represents the unfolding of the frontier as a violent process of destruction. But the hero remains the white subject. We are encouraged to disidentify from the bad whites by identifying with the good white [...]. It is his capacity to overcome his own whiteness, to 'go native' as a gesture of sympathy, as being with, as being for, that is the progressive racism of the film." [2]
Jack Halberstam hat das Vergessen als eine queere Erinnerungstechnik entworfen, um sich gegen dominante Narrative der Mehrheitsgesellschaft zu wenden: "[I]n order to remember and recognize the anticolonial struggles, other narratives do have to be forgotten and unlearned". [3] Vielleicht müssen wir in diesem Sinne aktiv eine Weiße, cis-gendered, hetero-patriarchale, und able-bodied Kunstgeschichtsschreibung strategisch "vergessen", um neuen Akteur*innen ausreichend Raum in historischen Narrativen zu bieten, die vernachlässigte Positionen zentralisieren ohne sie als eine additive Reaktion auf kanonisierte Namen einer Weißen Geistesgeschichte erscheinen zu lassen.
Kravagnas "Transmoderne" eröffnet genau diesen neuen emanzipatorischen Raum, wenn er zum Beispiel die Handlungsmacht Zora Neale Hurstons über die ihres Lehrers Melville J. Herskovits stellt und Herskovits nur zu einer Referenz unter vielen für Hurstons Arbeit werden lässt. In diesem Kontext zeigt das Buch "Weiß sehen" (2010) von Julia Roth und Carsten Junker, wie man Hurstons Texte auch als einen theoretischen Impuls für kritische Weißseinsforschung sehen und Hurston selbst als eine erste Vordenkerin für Intersektionalität betrachten kann. [4] In dieser Anordnung werden Hurstons historische Texte als Theorie ins Zentrum der aktuellen Debatte gerückt.
"Transmoderne" ist eine überzeugende Neustrukturierung der Kunstgeschichte als transkultureller Verhandlungsraum und bietet einen dekolonialen Gegenentwurf einer "Euro-Amerikanischen" Moderne, die der Autor deutlich in ihren Weißen Diskursmomenten benennt und so die inhärente und hegemoniale Macht des Rassismus darin sichtbar macht. Dies wird paradigmatisch im siebten Kapitel zur Kunsttheorie Clement Greenbergs als einem Produktionsort für Hegemonie besonders anschaulich, da sie durch Kravagnas Ausführungen keinen universalen Machtanspruch mehr einnehmen kann, sondern in ihrer spezifisch-Weißen Positionalisierung verortet und hierdurch provinzialisiert wird.
Anmerkungen:
[1] Michel-Rolph Trouillot: Silencing the Past. Power and the Production of History, Boston 2015.
[2] Sara Ahmed: Progressive Racism, in: Feminist Killjoys [Blog], Mai 2016, link: https://feministkilljoys.com/2016/05/30/progressive-racism [letzter Zugriff 22. Oktober 2019].
[3] Jack Halberstam: A Queer Art of Failure, Durham / London 2011, 77.
[4] Julia Roth / Carsten Junker: Weiß sehen. Dekoloniale Blickwechsel mit Zora Neale Hurston und Toni Morrison, Roßdorf 2010, 18-19.
Christian Kravagna: Transmoderne. Eine Kunstgeschichte des Kontakts (= PoLYpeN. Zur Kritik der Kunstkritik), Berlin: b_books 2017, 261 S., 30 s/w-Abb., ISBN 978-3-942214-22-3, EUR 24,80
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