In der Bundesrepublik wurde die Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte 1975 vielfach kritisiert, insbesondere weil der Westen dem Osten mit der Anerkennung des territorialen Status quo substantiell entgegengekommen sei, dafür aber nur unverbindliche Zusagen im Hinblick auf die Einhaltung der Menschenrechte und die Ausweitung menschlicher Kontakte erhalten habe. Da in der Schlussakte weitere Treffen zur Überprüfung der Ergebnisse und zur Weiterentwicklung der Beziehungen vereinbart wurden, entwickelte sich daraus der KSZE-Prozess, in dem sich 1989 jedoch nicht die Bundesrepublik, sondern die DDR als der "Verlierer" herausstellte.
Wie es dazu kam und welche Rolle das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) dabei spielte, ist Thema der (allzu) ausführlichen Studie von Douglas Selvage und Walter Süß. Dabei kann die auf einer umfangreichen Quellenrecherche beruhende Arbeit an die seit einigen Jahren intensivierten Forschungen, auch zur Rolle des KSZE-Prozesses für die DDR, anknüpfen. Es geht zum einen um den Einfluss des MfS auf die KSZE-Politik der DDR und der Sowjetunion und zum anderen um dessen Tätigkeit bei der Unterdrückung ungewollter Reaktionen unter den Ostdeutschen. Daher werden die Verhandlungen bei den einzelnen Treffen genauso umfassend thematisiert wie der Umgang des MfS mit Opposition und Ausreisebewegung in der DDR.
Eine frappierende Neuerkenntnis der Studie ist, wie stark die ostdeutschen Delegationen personell vom MfS durchsetzt waren, was zeigt, für wie sensibel die Verhandlungen erachtet wurden. Allerdings kamen die entscheidenden Informationen nicht von den Delegationsmitgliedern, sondern von den Inoffiziellen Mitarbeitern des MfS im Auswärtigen Amt in Bonn oder im BND. Dadurch war die ostdeutsche Seite relativ gut informiert über die Interna der westlichen Politik wie auch über Meinungsverschiedenheiten im westlichen Lager. Das nützte jedoch weniger der SED-Führung als dem KGB und der sowjetischen Seite, die sehr viel flexibler an die Verhandlungen herangingen und auch Konzessionen einplanten, während die DDR letztere auf jeden Fall verhindern wollte.
Die Sowjetunion verfolgte mit der KSZE ihre eigenen Ziele, denen sich die DDR schon 1975 unterordnen und so mehr Konzessionen im Bereich menschlicher Kontakte (Korb III) akzeptieren musste, als ihr lieb waren. Indem die DDR jedoch als gleichberechtigter Partner am Konferenztisch akzeptiert wurde, konnte sie damals immerhin ihr internationales Prestige steigern. Bereits bei dem Belgrader Nachfolgetreffen (1977-1978) ging es Moskau darum, die politische durch militärische Entspannung zu ergänzen; die heftige Ost-West-Konfrontation, die sich auch bei dem Treffen bemerkbar machte, verhinderte indes zur ostdeutschen Befriedigung ein positives Ergebnis. Erst auf dem Nachfolgetreffen in Madrid (1980-1983) gab die sowjetische Seite unter Vernachlässigung der ostdeutschen Interessen bei einigen substantiellen Punkten in Korb III nach, um einer Abrüstungskonferenz näher zu kommen. Die Expertise des MfS war nun sehr viel stärker als in Belgrad gefragt, und Erich Mielke sah sich zu einem - allerdings erfolglosen - Protest beim KGB-Vorsitzenden Juri Andropow veranlasst.
In der DDR waren bereits seit 1975 die unmittelbaren Folgen der KSZE sichtbar geworden. Diese äußerten sich - anders als in der Sowjetunion, Polen und der Tschechoslowakei - nicht in der Bildung oppositioneller "Helsinki-Gruppen", sondern vor allem in einem so nicht vorausgesehenen Anstieg der Ausreisezahlen. Denn mit der KSZE-Schlussakte hatten die Ostdeutschen endlich eine Berufungsgrundlage für einen Ausreiseantrag. Fortan wurde der Kampf gegen "Ausreiser" zu einer zentralen Aufgabe des MfS. 1977/78 war es mit seiner repressiven Politik relativ erfolgreich: Der KSZE-Prozess führte folglich nicht zwangsläufig und unumkehrbar zu einer Auflockerung der staatssozialistischen Diktaturen. Aufgrund der von der DDR contre cœur mitgetragenen Kompromisse von Madrid verstärkte sich indes der Ausreisedruck und äußerte sich unter anderem in Botschaftsbesetzungen. Nun zeigte sich auch, wie begrenzt die Macht der Stasi im Innern war: Denn gegen den Rat Mielkes entschied Honecker, allen, die seit langen Jahren und wiederholt Anträge gestellt hatten, die Ausreise zu gestatten, so dass bis Ende 1984 48.400 Personen übersiedeln durften. Das war nicht nur auf das Bedürfnis Honeckers zurückzuführen, sich damit das Problem vom Hals zu schaffen, sondern auch auf die zunehmende Abhängigkeit von der Bundesrepublik, wie sie in den damaligen zwei Milliardenkrediten für die DDR zum Ausdruck kam. Im Ergebnis führte dies jedoch zu einer Verstärkung der Ausreisebewegung, über die das MfS spätestens von nun an jede Kontrolle verloren hatte.
Während viele dieser Befunde seit der Dissertation von Anja Hanisch [1] bekannt sind, betreten die Autoren mit den Kapiteln über den KSZE-Prozess nach Madrid Neuland. Die Expertentreffen von 1985 waren ein Novum, weil damit die Warschauer-Pakt-Staaten die auf diesen Treffen thematisierten Menschenrechte erstmals als legitimen und prominenten Verhandlungsgegenstand akzeptierten. Das Wiener Folgetreffen (1986-1989) schließlich unterschied sich grundlegend von den vorangegangenen Treffen, da aus Moskau seit dem Amtsantritt Gorbatschows ein anderer Wind wehte. Gorbatschow kam dem Westen mit Erleichterungen bei den Menschenrechten im eigenen Land entgegen, und die sowjetische Seite schlug sogar die Abhaltung einer Menschenrechtskonferenz in Moskau vor. Aufgrund innersowjetischer Auseinandersetzungen war jedoch erst 1988 klar, dass die reform- und menschenrechtsfreundliche Linie Gorbatschows sich durchgesetzt hatte, so dass die Verhandlungen über ein Schlussdokument jetzt ernsthaft einsetzten. Moskau und fast alle anderen Ostblockstaaten waren nun bereit, auch die westliche Menschenrechtsdefinition zu übernehmen und gestanden überdies die Legalisierung der Helsinki-Gruppen und die Abschaffung des Mindestumtauschs zu. Neben der DDR lehnte dies nur noch Rumänien ab. Erneut protestierte Mielke beim KGB-Chef, und bei einem Außenministertreffen der Ostblockstaaten kam es zu einer Konfrontation zwischen DDR-Außenminister Oskar Fischer und seinem sowjetischen Amtskollegen Eduard Schewardnadse, was aber nichts an dem Schlussdokument änderte.
Die DDR-Führung war zwar sehr unzufrieden über das Ergebnis. Sie reagierte mit einer noch offeneren Abgrenzung vom sowjetischen Reformkurs als bisher, sah sich aber auch zu einer innenpolitischen Lockerung des Regimes und, nach dem Tod von Chris Gueffroy an der Berliner Mauer, zu einer Aufhebung des Schießbefehls gezwungen. Das ermöglichte mehr Fluchten, aber auch einen größeren Handlungsspielraum für die Opposition, während die Macht der Repressionsorgane begrenzt wurde.
Der KSZE-Prozess war daher sicher ein Faktor im Untergang der DDR, wenn auch nicht der entscheidende. Dieser Bewertung der Autoren ist genauso zuzustimmen wie dem Hinweis darauf, dass der KSZE-Prozess zum weitgehend friedlichen Verlauf der Revolution in der DDR und des sowjetischen Rückzugs aus Europa beitrug.
Anmerkung:
[1] Anja Hanisch: Die DDR im KSZE-Prozess 1972-1985. Zwischen Ostabhängigkeit, Westabgrenzung und Ausreisebewegung, München 2012.
Douglas Selvage / Walter Süß: Staatssicherheit und KSZE-Prozess. MfS zwischen SED und KGB (1972-1989) (= Analysen und Dokumente; Bd. 54), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019, 757 S., ISBN 978-3-525-31069-4, EUR 55,00
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