sehepunkte 19 (2019), Nr. 11

Manfred Klein: Preußens Litauer

An der nordöstlichen Peripherie des preußischen Staates, in der sogenannten "preußischen Achselhöhle", gab es eine Bevölkerungsgruppe, die Preußischen Litauer, die auch in der Unterscheidung zu den Litauern jenseits der Grenze als "Kleinlitauer" bezeichnet wurden und sich selbst "Lietuvininkai" nannten. Neben ihrer litauischen Sprache fielen sie Besuchern vor allem durch ihre eigene spezifische Kultur auf. Eine breitere Öffentlichkeit erfuhr erstmals von dieser ethnischen Gruppe als der Tilsiter Fotograf Robert Minzloff im Jahr 1894 einen Bildband Bilder aus Littauen. Photographische Momentaufnahmen [1] veröffentlichte, der zahlreiche ethnografische Szenen zeigte und bei vielen Betrachtern ein Interesse für die Eigenarten dieser Region weckte.

Manfred Klein hat sich seit vielen Jahren mit historischen, kulturellen und linguistischen Phänomenen der Preußischen Litauer beschäftigt und regelmäßig Aufsätze dazu veröffentlicht, die der vorliegende Band versammelt. Fragen der ethnischen Identität dieser Volksgruppe stehen im Zentrum der elf Texte. Dazu gehören neben der Schilderung einer jugendlichen Subkultur aus dem 19. Jahrhundert, die in sommerlichen Vergnügungen während der Nachtweide der Pferde ihren Ausdruck fand ("...waren die Jungen bereits über alle Berge"), Erörterungen zu Momenten, in denen sich Bilinguale in einer zweisprachigen Welt der eigenen Sprache schämen ("Wann 'schämt' man sich seiner Muttersprache"), Betrachtungen zu Termini aus beiden Sprachen, die zu neuen Wortschöpfungen führen ("Ein interkulturelles Produkt - der 'Putzmalūnas'") und Betrachtungen zu kulturellen Persönlichkeiten der Region wie Kristijonas Donelaitis oder Martynas Jankus. Der Verfasser verharrt nicht auf der linguistischen Ebene, stets bezieht er Fragen der Kommunikation und des kulturellen Habitus mit ein und argumentiert vor einem breiten kulturgeschichtlichen Hintergrund.

So sehr die einzelnen Beiträge durch ihren Inhalt und die jeweilige Darstellung auch bestechen, trifft man bei durchgehender Lektüre dieser sämtlich schon veröffentlichten Beiträge doch auf Wiederholungen einzelner Topoi und Gedankengänge, was sich immer wieder als kleiner Schönheitsfehler solcher Editionen herausstellt. Doch die Aufsätze dieses Sammelbandes gehen weit über Forschungen aus einer regionalen Perspektive hinaus. Einige von ihnen liefern hervorragende methodische Ansätze für unterschiedlich ausgerichtete Untersuchungen in der historischen Forschung wie auch zu ostmitteleuropäischen Themen: Als Erstes sei hier der Rückgriff auf Romane des 19. Jahrhundert als "Quelle für Kultur- und Rechtsgeschichte" sowie der "Etnographie" (144) genannt, in diesem Fall Romane des Gelegenheitsschriftstellers Jodokus Donatus Temme, denen der Verfasser zwei Beiträge widmet: "Wer war Anna Jogszies" und "J. D. H. Temmes literarisches Denkmal für die Kacksche Ball (Kakšių balas)". Hier erklärt der Verfasser eingangs, inwiefern sich ein fiktionaler Text, auch wenn er in die Kategorie der Trivialromane eingegangen ist, als mögliche Quelle für zeitgenössische Verhältnisse eignet (157 ff.) und analysiert exemplarisch Temmes Text für die historische Darstellung der Moorlandschaft (des Kaksche Ball). Ein weiterer Text, "Liustik, buršeliai...!" befasst sich mit den späteren ethnischen und kulturellen Auswirkungen der Dienstzeiten der preußischen Litauer im preußischen Heer. Überzeugend und präzise schildert Klein die aufkommende Bilingualität in der Region, analysiert Kommunikationsverhalten in der Zweisprachigkeit (stets in Verbindung mit dem kulturellen Habitus) sowie Selbstwertgefühle von Sprechern in unterschiedlichen Situationen und geht den Begriffen von Akkulturation und Assimilation für kulturelle Phänomene dieser Region nach.

Dieses Untersuchungsmuster ließe sich auch auf andere ethnische Minderheiten und Regionen anwenden. In diesem Sinne hat der Band einen Wert, der weit über die Erforschung der ehemaligen preußisch-litauischen Region und deren Bewohner herausgeht, deren Spuren sich heute im Wesentlichen, nach dem Verbot des Litauischen in der NS-Zeit und Flucht und Vertreibung am Ende des Zweiten Weltkriegs, nur noch in den Museen von Klaipėda und Šilutė finden lassen.


Anmerkung:

[1] Dieses Album wurde jüngst in einer deutsch-litauischen kommentierten Edition vom Thomas-Mann-Kulturzentrum in Nida herausgegeben: Lina Motuzienė / Vasilijus Safronovas (Hgg.): Vaizdai iš Lietuvos: Roberto Minzloffo etnografinių scenų albu-mas / Bilder aus Litauen: Ethnografische Aufnahmen von Robert Minzloff, Neringa 2017.

Rezension über:

Manfred Klein: Preußens Litauer. Studien zu einer (fast) vergessenen Minderheit (= Schriften zur Kulturwissenschaft; Bd. 119), Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2017, 272 S., ISBN 978-3-8300-9732-7, EUR 95,80

Rezension von:
Ruth Leiserowitz
Deutsches Historisches Institut, Warschau
Empfohlene Zitierweise:
Ruth Leiserowitz: Rezension von: Manfred Klein: Preußens Litauer. Studien zu einer (fast) vergessenen Minderheit, Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2017, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 11 [15.11.2019], URL: https://www.sehepunkte.de/2019/11/33699.html


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