Anlässlich des 50. Jubiläums der Ereignisse von 1968 erschienen im letzten Jahr unzählige Publikationen. Als Überblick legte beispielsweise Wolfgang Kraushaar eine imposante vierbändige Chronik über die internationale Dimension der Bewegung vor. [1] Andere Bücher rückten bislang unterbelichtete Aspekte in den Mittelpunkt. So arbeitete Christina von Hodenberg in "Das andere 68" die zentrale Rolle von Frauen heraus, während Thomas Großbölting den Fokus weg von den Metropolen auf die westfälische Provinz lenkte. [2]
Auch der Gesprächsband von Peter Birke, der als Historiker am Soziologischen Forschungsinstitut in Göttingen tätig ist, und Wolfgang Hien dokumentiert in mehrfacher Hinsicht eine von der Forschung noch weitgehend unbeachtete Perspektive. Birkes Gesprächspartner ist promovierter Arbeitswissenschaftler, seit Jahrzehnten politisch aktiv, war mehrere Jahre als Referent im Deutschen Gewerkschaftsbund tätig und verkörpert zentrale Facetten der "proletarischen Wende" in der westdeutschen Linken, als sich im Nachgang der 68er-Bewegung zahlreiche Betriebsgruppen gründeten.
Der Band basiert auf insgesamt sieben mehrstündigen autobiographischen Interviews zwischen 2012 und 2016. Abgeschlossen wird er durch einen Text von Wolfgang Hien über Gesundheit als politische Kategorie.
In der Einleitung führt Birke aus, dass die dezentrierten Alltagskämpfe einfacher Menschen, ihre Interessen und Zukunftserwartungen kaum Beachtung finden - weder in den Medien noch in der Wissenschaft: "Ihre Biografien interessieren höchstens, wenn sie etwas schrilles, schräges verkörpern." (9)
Die alltägliche Arbeitssituation Lohnabhängiger stand allerdings im politischen Fokus linker Betriebsgruppen, denen Hien angehörte. Diese "andere Arbeiterbewegung" jenseits konventioneller politischer und gewerkschaftlicher Strukturen sei in der Erinnerung wie in der Erforschung der vielschichtigen Sozialbewegung unterrepräsentiert. "1968" werde meist auf die Studierenden reduziert. Der politische Lebenslauf von Wolfgang Hien spiegelt hingegen zentrale Aspekte der "anderen Arbeiterbewegung" wider. 1940 im Saarland in einer katholischen Arbeiterfamilie geboren, beendete Hien das Gymnasium nicht, sondern begann eine Ausbildung zum Laboranten im PVC-Technikum der BASF in Ludwigshafen. Dort erlebte Hien die brutalen Initiationsrituale, die betrieblichen Hierarchien, die Entwürdigungen und den täglichen Verschleiß der Gesundheit in einem riesigen Chemiewerk. Er politisierte sich stark im Jugendwohnheim, nahm an marxistischen Lesezirkeln teil und diskutierte mit anderen Lehrlingen über den Vietnamkrieg und die Kriegsdienstverweigerung. Seine damalige Haltung beschreibt er folgendermaßen: "Wir wollten kein Rädchen sein, keine Nummer, wir wollten mehr sein. Oder wenigstens Sand im Getriebe." (34)
Geprägt durch die Erfahrung in der Chemieindustrie entwickelte sich der Kampf gegen gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen zu Hiens Lebensthema. Anfang der 1970er Jahre schloss er sich der trotzkistischen Gruppe Internationale Marxisten (GIM) an. Nach weiteren Tätigkeiten in der Stahlindustrie und in der Chemiebranche nahm er spät ein Studium auf, zunächst in Heidelberg, dann in Bremen. Dort wurde er 1992 im Fach Arbeitswissenschaft promoviert. Anfang des neuen Jahrtausends arbeitete Hien für mehrere Jahre als Referent für Arbeitsschutz beim DGB Bundesvorstand. Er kam jedoch mit den internen Hierarchien und der bürokratischen Organisationslogik in Konflikt und verließ den Dachverband. Seitdem arbeitet er als Gutachter, Referent und Erwachsenenbildner für Arbeits- und Gesundheitsschutz. Hien baute auch das bundesweite Netzwerk "Arbeit und Gesundheit" mit auf.
Sein Lebenslauf ist keineswegs gradlinig, sondern voller Brüche. Ohne Verklärung oder Beschönigung beschreibt Hien in den Gesprächen die unterschiedlichen Stationen seines Weges. Die Schilderung der Arbeitsbedingungen in der Chemieindustrie, das Verhalten der Kollegen untereinander, die alltäglichen Konflikte und Auseinandersetzungen mit den Vorarbeitern und der Firmenleitung ist erzählte Zeitgeschichte im besten Sinne. Die menschenunwürdigen Bedingungen in einem modernen Betrieb beschreibt Hien als Normalität in der kapitalistischen Industriemoderne. Genau dazu forschte er lange an der Universität Bremen, meist in kürzeren Projekten, die ihm größtmögliche Freiheit und Flexibilität ermöglichten. Nach der Schließung der Vulkanwerft im Jahr 1997 untersuchte Hien noch das Schicksal der dortigen Beschäftigten. Daraus gingen mehrere Publikationen hervor. [3] Darüber hinaus begann er, mit Karl Heinz Roth und der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts zusammen zu arbeiten.
Hien legt zugleich dar, welchen Tribut seine Überzeugungen und sein Kampf für eine andere Gesellschaft forderten. Er musste oft den Arbeitsplatz wechseln, zog deshalb ständig um und opferte seine Freizeit der politischen Arbeit. Sein widerständiges Verhalten brachte ihn nicht nur auf mehrere schwarze Listen von Chemieunternehmen, sondern bescherte ihm auch ein jahrzehntelanges Hausverbot auf dem BASF Gelände in Ludwigshafen. Durch sein intensives politisches Engagement sei er außerdem lange nicht willens oder fähig gewesen, sich auf eine längerfristige Beziehung einzulassen.
Am Schluss des Buches resümiert Hien seine engagierte Forschung wie folgt: "Die Menschheitsgeschichte kann schließlich auch als Geschichte schwerer körperlicher Arbeit gelesen werden. Wohlstand und Reichtum sind auf massenhaften körperlich-leiblichen Verschleiß der arbeitenden Kassen gebaut [...] Im Grunde ist meine Forschung ein Beitrag zur Körpergeschichte. Die Geschichte des Kapitalismus ist zugleich eine Geschichte der bio- und körperpolitischen Zurichtung." (213)
Der Gesprächsband rückt eine randständige Perspektive in den Mittelpunkt. Vom subjektiv erzählten Lebensweg Wolfgang Hiens aus lässt sich die Geschichte der undogmatischen Linken in der Bundesrepublik erfassen. Gerade eine prima facie marginale Perspektive ermöglicht nicht selten Rückschlüsse auf allgemeinere politische Entwicklungen. So unterstreicht der Band die Zentralität der betrieblichen Alltagserfahrungen von Lohnabhängigen zum Verständnis der modernen kapitalistischen Gesellschaft. Diese Alltagserfahrungen sind geprägt von Konflikten und Auseinandersetzungen. Deshalb verstehen Hien und Birke das Buch auch als Teil einer Geschichte der sozialen Kämpfe seit den 1960er Jahren, die erst noch zu schreiben sei. Es bleibt zu hoffen, dass die Forschung derartige Impulse aufgreift und sowohl der außerparlamentarischen Linken jenseits der studentischen 68er-Bewegung als auch der Gewerkschaftslinken seit den 1970er Jahren stärkere Aufmerksamkeit widmet. Deren Geschichte jedenfalls ist definitiv noch zu schreiben.
Anmerkungen:
[1] Wolfgang Kraushaar: Die 68er-Bewegung International. Eine illustrierte Chronik 1960-1969, 4 Bde., Stuttgart 2018.
[2] Thomas Großbölting: 1968 in Westfalen. Akteure, Formen und Nachwirkungen einer Protestbewegung, Münster 2018.
[3] Wolfgang Hien u. a.: Am Ende ein neuer Anfang? Arbeit, Gesundheit und Leben der Werftarbeiter des Bremer Vulkan, Hamburg 2002; Wolfgang Hien u. a.: Ein neuer Anfang wars am Ende nicht. Zehn Jahre Vulkan-Pleite: Was ist aus den Menschen geworden? Eine Studie im Auftrag des Vereins Arbeit und Zukunft e.V. in Bremen zu Arbeit, Leben und Gesundheit der ehemaligen Vulkanesen, Hamburg 2007.
[4] Vgl. hierzu auch Wolfgang Hien: Die Arbeit des Körpers von der Hochindustrialisierung in Deutschland und Österreich bis zur neoliberalen Gegenwart, Wien 2018.
Wolfgang Hien / Peter Birke: Gegen die Zerstörung von Herz und Hirn. "68" und das Ringen um menschenwürdige Arbeit, Hamburg: VSA-Verlag 2018, 263 S., ISBN 978-3-89965-829-3, EUR 22,80
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