sehepunkte 20 (2020), Nr. 2

Virginia Blanton / Veronica O'Mara / Patricia Stoop (eds.): Nuns' Literacies in Medieval Europe

Mit der vorliegenden Aufsatzsammlung präsentieren die Herausgeberinnen die letzte von drei Publikationen, denen entsprechende Tagungen in Hull (2011), Kansas City (2012) und Antwerpen (2013) vorausgegangen waren. [1] Inhaltlich verknüpft wurden diese internationalen, hauptsächlich sprach- und literaturwissenschaftlich ausgerichteten Konferenzen an den jeweiligen wissenschaftlichen Standorten der einschlägig ausgewiesenen, hochspezialisierten Herausgeberinnen durch deren gemeinsames Projekt zur Erkundung der Literalitäten (literacies) geistlicher Frauen im europäischen Mittelalter. Auch wenn diese weite Rahmung nicht vollständig gefüllt werden konnte, ist es trotzdem gelungen, mit den in der Trilogie gesammelten 53 Aufsätze die chronologische, geographische und volkssprachliche Vielfalt weiblicher Wissensaneignung sowie deren Rezeption und Weitergabe adäquat abzubilden.

So werden allein im "Antwerp Dialogue" in den vom 7. bis zum 16. Jahrhundert reichenden 19 Beiträgen neben dem "male-gendered Latin" (xli) literarische Produktionen in den jeweiligen Volkssprachen aus Katalonien, Ungarn, den Niederlanden, dem Heiligen Römischen Reich, Schweden, England, Frankreich oder Italien untersucht. Die Vielfalt der methodischen Zugänge, der ausgewählten Quellen und der in den Blick gerückten, manchmal namentlich bekannten, manchmal anonym gebliebenen geistlichen Frauen, mag den Eindruck willkürlich zusammengestellter Fallstudien erwecken. Dahinter verbirgt sich jedoch die Absicht, eben nicht die sattsam bekannten und studierten "großen Frauen" (wie Hildegard von Bingen) auftreten zu lassen, sondern gerade die "average medieval nun" in den Mittelpunkt zu rücken (xxi). Ein solcher Zugang verrät die kluge Einsicht, dass auch jene "großen Frauen" kaum ohne den Kontext bereits stabilisierter Ausbildungssysteme agiert haben können.

In der ausführlichen und luziden Einleitung, welche gleichzeitig ein Resumée der beiden vorangehenden Bände liefert, stellen die Herausgeberinnen das breit angelegte, ehrgeizige Forschungsvorhaben vor, in dem auf eine Verengung durch allzu starre Definitionen verzichtet wurde. So verstehen sie unter dem Label "Nonne" alle "enclosed or semi-enclosed female religious that either follow a Rule or live communally following a ritualized pattern of devotional and liturgical activities" (xxii). Als geistliche Frauen gezählt werden mithin Nonnen, (Laien-)Schwestern, aber auch Kanonissen oder Tertiarierinnen. Ebenfalls wohlbegründet wird die übliche Epochengrenze zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit übersprungen. Gleichfalls breit fällt die Definition von "Literalität" aus, von der die Herausgeberinnen bevorzugt im Plural sprechen. So geht es in den gesammelten Konferenzbeiträgen neben Schreib- und Lesefähigkeiten um Textverständnis, Kenntnisse des Latein und der Volkssprache, um das Kopieren, Adaptieren, Rezipieren, (Neu-)Organisieren, Modifizieren, Übersetzen und Visualisieren von gehörten und gelesenen Texten (darunter auch Predigten).

Die Diversität und Qualität schriftkultureller Leistungen, welche geistliche Frauen zu unterschiedlichen Zeiten, an unterschiedlichen Orten und in unterschiedlichen politischen sowie sozialen Kontexten während des europäischen Mittelalters "hinter Klostermauern" erbrachten, spiegelt sich wider in den thematisch gegliederten vier Abschnitten "Rules and Learning", "Literacy and Visualization", "Translating and Rewriting" sowie "Exchange and Networks". Jeder der Beiträge, verfasst von ausgewiesenen Expertinnen und Experten, liefert damit einen weiteren Puzzlestein zu dem großen, gleichwohl noch höchst unvollständigen Bild von weiblicher Literalität im europäischen Mittelalter (xliii).

Insgesamt fügen sich die in Antwerpen, Hull und Kansas City erzielten Ergebnisse ein in jene jüngeren Forschungskontexte, welche das Leben und Schaffen geistlicher Frauen in Mittelalter und Früher Neuzeit in den Mittelpunkt der historischen Analyse stellen. [2] Dabei spielen neben Ordensregeln, liturgischen und religiös-spirituellen Texten (gemeinsam mit deren Visualisierung), Texte der pragmatischen Schriftlichkeit, Selbstzeugnisse und Korrespondenzen eine große Rolle. [3] Vor diesem Hintergrund zeigen insbesondere die Beiträge in der Sektion "Exchange and Networks" des "Antwerp Dialogue": Geistliche Frauen - auch solche in Ordensniederlassungen, die der Devotio moderna oder observanten Reformen folgten - lebten nicht streng und kontaktlos weggeschlossen von ihren Familien und der Welt. Vielmehr existierte ein reger Austausch von Büchern, Manuskripten, Drucken, Briefen und mithin von religiösem (und - wenn man so will - weltlichem) Wissen. Die Netzwerke der "gelehrten Bräute Christi" (Eva Schlotheuber) konnten weit über die eigene Gemeinschaft hinausreichen und die (wenn auch begrenzte) Teilnahme am Leben jenseits der Klostermauern ermöglichen.

Jenes "medieval crossover" (Barbara Newman) [4] zwischen sakralen und säkularen Räumen bedurfte jedoch der Beteiligung männlicher Familienmitglieder, insbesondere der Teilhabe der Beichtväter und Seelenführer, Prediger und Priester, welche die geistlichen Frauen betreuten. Bewusst hat das Projekt "Nuns' Literacies in Medieval Europe" das allzu simple und sicher unzutreffende Erklärungsmuster "learned men and uneducated female" ausgeklammert (xlvi). Jenseits dieser simplifizierenden Dichotomie existierten viele Formen der Zusammenarbeit zwischen geistlichen Frauen und männlichen Bezugspersonen. Vielfach offen bleiben muss, ob und in welchem Ausmaß männliche Auftraggeber (geistliche wie weltliche) die Auswahl, Gestaltung, Verbreitung und Drucklegung jener Texte (mit-)beeinflusst haben, die von geistlichen Frauen kopiert, illustriert, mitgeschrieben (Predigten), für ihren spezifischen Gebrauch modifiziert und in Umlauf gebracht wurden.

Darüber hinaus erlaubt selbst die breite Perspektive auf die "average medieval nun" - im Vergleich mit der tatsächlich anzunehmenden Anzahl geistlicher Frauen im mittelalterlichen Europa - nur das Erfassen weniger Einzelfälle, die gelegentlich in der Betonung ihrer Literalität geradezu idealisiert erscheinen. Die agency vieler geistlicher Frauen dürfte vom häufig erzwungenen, armseligen, von internen Konflikten bestimmten "Leben hinter Klostermauern" jedoch eher eingeschränkt geblieben sein.

Angesichts der im "Antwerp Dialogue" (wie in den beiden vorausgegangenen Bänden) gebotenen, sich über mehrere Jahrhunderte, Sprachen und kulturelle sowie politische Grenzen verteilenden Fallstudien, fiel es den Herausgeberinnen nicht leicht, eine konzise Beantwortung der von ihnen zu Beginn des Projekts gestellten Fragen zu liefern. Dies lag unter anderem an der gewollt inspirierenden Offenheit der Projektkonzeption, die kein starres Analyse- und Methodeninstrumentarium vorgegeben, sondern auf die Kompetenzen und spezifisch-individuellen Interessen der an den Konferenzen beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vertraut hat.

Damit haftet dem Projekt "Nuns' Literacies in Medieval Europe" der Status des "work in progress" an. Die Herausgeberinnen betonen zurecht den anhaltenden Dialog, der sich weiterhin seinen zu erforschenden Gegenständen aus verschiedenen Richtungen und in konzentrischen Kreisen annähern muss. Nicht zuletzt bleiben auch nachfolgende Untersuchungen abhängig von einer höchst dispersen Quellenlage, da das von geistlichen Frauen geschaffene Schriftgut als unwichtig eingestuft, nicht aufbewahrt oder durch Krieg bzw. Klosterauflösung vernichtet wurde, während gleichzeitig andere Bestände als unerforscht, ja unentdeckt zu gelten haben. Es bleibt daher dem sorgfältig mit einer Bibliographie und verschiedenen Indices ausgestatteten Band zu wünschen, dass jeder seiner Forschungsbeiträge jene internationale Rezeption erfährt, die es erlaubt, den Dialog vertiefend fortzusetzen und das Puzzle zu vervollständigen.


Anmerkungen:

[1] Nuns' Literacies in Medieval Europe: The Hull Dialogue, 2013; Nuns' Literacies in Medieval Europe: The Kansas City Dialogue, 2015.

[2] Vgl. nur Stefanie Monika Neidhardt: Autonomie im Gehorsam. Die dominikanische Observanz in Selbstzeugnissen geistlicher Frauen des Spätmittelalters, Tübingen 2017; Eva Schlotheuber: "Gelehrte Bräute Christi". Geistliche Frauen in der mittelalterlichen Gesellschaft, Tübingen 2018, oder die "Arbeitsgemeinschaft geistliche Frauen im europäischen Mittelalter", angesiedelt am Institut für Geschichtliche Landeskunde und Hilfswissenschaften (Universität Tübingen, Prof. Dr. Sigrid Hirbodian).

[3] Netzwerke der Nonnen. Edition und Erschließung der Briefsammlung aus Kloster Lüne (ca. 1460-1555), http://diglib.hab.de/wdb.php?dir=edoc/ed000248&distype=start&pvID=start.

[4] Barbara Newman: Medieval crossover. Reading the Secular against the Sacred, Notre Dame 2013.

Rezension über:

Virginia Blanton / Veronica O'Mara / Patricia Stoop (eds.): Nuns' Literacies in Medieval Europe. The Antwerp Dialogue (= Medieval Women: Texts and Contexts; Vol. 28), Turnhout: Brepols 2017, LXVI + 502 S., 2 Farb-, 21 s/w-Abb., ISBN 978-2-503-55411-2, EUR 125,00

Rezension von:
Rita Voltmer
Institut für Geschichtliche Landeskunde, Universität Trier
Empfohlene Zitierweise:
Rita Voltmer: Rezension von: Virginia Blanton / Veronica O'Mara / Patricia Stoop (eds.): Nuns' Literacies in Medieval Europe. The Antwerp Dialogue, Turnhout: Brepols 2017, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 2 [15.02.2020], URL: https://www.sehepunkte.de/2020/02/32211.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.