sehepunkte 20 (2020), Nr. 2

Jason Lucas / Carrie Ann Murray / Sara Owen (eds.): Greek Colonization in Local Contexts

Mehr als viele andere Forschungsgebiete ist die Erforschung der griechischen Kolonisation des 8.- 4. Jahrhunderts v. Chr. von dem Antrieb durchdrungen, scheinbar bekannte historische Prozesse in neuem Licht zu sehen: neue Terminologien, neue Perspektiven, neue Zusammenhänge. Das hat damit zu tun, dass der Begriff der Kolonisation spätestens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts problematisch erscheint. Während im 19. Jahrhundert Ernst Curtius noch von den Griechen als "Meistern der Kolonisation" sprach und den antiken Kolonisatoren damit eine Vorbildfunktion für den europäischen Kolonialismus der Neuzeit zuschrieb, wird heute darüber diskutiert, ob der Terminus "Kolonisation" für das antike Griechenland überhaupt noch verwendbar sei.

Einer der Unterschiede zwischen antiker und moderner Kolonisation, die in diesem Zusammenhang oft hervorgehoben werden, besteht darin, dass es sich bei den griechischen Kolonien nicht um abhängige Vorposten imperialer Staaten handelte. Daraus folgt die Notwendigkeit, die griechischen Kolonien in ihrem jeweiligen lokalen Umfeld zu betrachten, wie es der Titel des hier zu besprechenden Bandes ankündigt. In den letzten Jahren hat der Begriff der "Lokalität" an Bedeutung gewonnen, wie u.a. die Arbeiten Erich Kistlers zu diesem Thema zeigen.

Der von Jason Lucas, Carrie Ann Murray und Sara Owen herausgegeben Band geht auf die theoretischen Implikationen des Lokalitätsbegriffes nur am Rande ein; das Buch ist eine Sammlung von "case studies", wie es im Untertitel heißt, die weitgehend für sich stehen (Südfrankreich, Sizilien, Süditalien, Nordägäis und Schwarzmeerraum), hervorgegangen aus einer 2007 in Cambridge veranstalteten Tagung. Angesichts der durchaus hohen Qualität der meisten Beträge ist es bedauerlich, dass die Publikation der Tagungsbeiträge erst zwölf Jahre später, im Jahr 2019 erfolgte, auch, weil nach den Literaturverzeichnissen zu urteilen die Texte seither weitgehend unverändert blieben.

In spezieller Weise gilt das für den ersten Beitrag, verfasst von Mitherausgeberin Carrie Ann Murray ("Constructing colonies: Physical manifestations of social action within Greek colonization", 7-23). Die theoretische Abhandlung zu Planung, Struktur und regionaler Einbindung kolonialer Siedlungen mündet in der Folgerung: "With such an extensive amount of existing data and interpretations related to Greek colonization, it can be overwhelming to navigate through it." (21) Auch wird hervorgehoben, dass die Formation von Siedlungen und Nekropolen kein "einstufiger oder statischer Prozess" sei (21).

Es folgt eine Reihe von Fallstudien, die hier nicht im Einzelnen besprochen werden können. Aus den teils zusammenfassenden, teils Detailfragen vertiefenden Texten sticht David Braunds Beitrag über "Colonial location: Olbia on the Hypanis" (215-230) als anregende und brillante Reflexion über das Verhältnis zwischen antiken Schriftquellen und historischen Prozessen am Beispiel der milesischen "Kolonie" Olbia heraus. Braunds Aufsatz hat das Potential, ein Referenzpunkt der Diskussion der nächsten Jahre zu werden, und es ist daher besonders schade, dass er nicht eher erschienen ist. Braund wartet nicht mit langen theoretischen Präambeln auf, doch die Lektüre zeigt, dass er die Implikationen postkolonialer und poststrukturalistischer Quellenkritik verinnerlicht hat. "Location" (Verortung, Lokalisierung) ist hier - jedenfalls nach dem Verständnis des Rezensenten - nicht einfach nur im topographischen Sinn gemeint, sondern bezieht das Verorten als wissenspolitische Determinierung und koloniale Raumordnung mit ein. Insofern ergeben sich hier Überschneidungen mit postkolonialen Arbeiten wie beispielsweise Homi Bhabhas "The Location of Culture" (1994), auch wenn sie nicht explizit zitiert sind. Das ist auch gar nicht unbedingt nötig, denn Braund zeigt, wie aus den antiken Quellen selbst eine fundamentale Kritik kolonialer Narrative herausgearbeitet werden kann.

Angefangen von Olbias "verkehrtem Namen" (die Stadt, die auch als Borysthenes bekannt war, liegt nicht am gleichnamigen Fluss, dem antiken Dnjepr), zeigt Braund auf, wie hinter vermeintlich kohärenten und stringenten Gründungsgeschichten eine komplexe Realität liegt, deren Kollisionsschrammen mit offiziellen Erzählungen oft nur allzu offensichtlich sind. Aufbauend auf Studien wie denen von Robin Osborne zur Struktur der frühen griechischen Kolonisation im Westen [1], zeigt Braund eine Lesart der literarischen und archäologischen Zeugnisse auf, die es erlaubt, beide Quellenkategorien im Kontext von Migration und Selbstbehauptung in einer fremden Umgebung zu lesen. Die oft chaotischen, meist sehr prekären Anfänge vieler griechischer Siedlungen stehen aus diesem Blickwinkel nicht in Widerspruch zu den literarischen Zeugnissen, sondern liefern vielmehr eine Begründung für Unstimmigkeiten und Varianten in den Texten. Sich durch Toponyme, aber auch durch Erzählungen und Verhaltensweisen in einem fremden Umfeld zu verorten, wird in Braunds Interpretation integraler Teil einer kolonialen Überlebens- und Selbstbehauptungsstrategie - ein Ansatz, den es sich lohnen würde, an anderen Beispielen näher zu erproben.


Anmerkung:

[1] In: Archaic Greece: New Approaches and New Evidence, 1998.

Rezension über:

Jason Lucas / Carrie Ann Murray / Sara Owen (eds.): Greek Colonization in Local Contexts. Case Studies in Colonial Interactions, Oxford: Oxbow Books 2019, V + 241 S., 72 s/w-Abb., ISBN 978-1-78925-132-6, GBP 40,00

Rezension von:
Gabriel Zuchtriegel
Parco Archeologico di Paestum
Empfohlene Zitierweise:
Gabriel Zuchtriegel: Rezension von: Jason Lucas / Carrie Ann Murray / Sara Owen (eds.): Greek Colonization in Local Contexts. Case Studies in Colonial Interactions, Oxford: Oxbow Books 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 2 [15.02.2020], URL: https://www.sehepunkte.de/2020/02/33104.html


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