Die unter Betreuung der Doyenne der kulturhistorischen Frühneuzeitforschung entstandene Münsteraner Dissertation nimmt sich ebenso eindrucksvoll methodisch-theoretisch fundiert wie quellengesättigt desjenigen Aspekts der neueren Dynastiegeschichte an, der bislang deutlich unterbelichtet geblieben ist, nämlich der Dynastiebildung. Sie konzipiert diesen Vorgang plausibel als grundsätzlich offenen, jeweils wesentlich situativ bedingten, höchst komplexen, immer wieder von gegenläufigen oder zumindest hemmenden Entwicklungen sowie mehr oder weniger scharfen Konflikten geprägten Prozess, der erst später in zunehmende Institutionalisierung übergegangen sei. Als Beobachtungs- oder Rekonstruktionsebene sind die Praktiken und Diskurse der entscheidenden Akteure aus den ausgewählten beiden Grafenhäusern unter gelegentlichem Einbezug von deren unmittelbarem Umfeld angesetzt.
Die Transformation der noch im 14. Jahrhundert ziemlich lockeren beiden Verwandtschaftsverbände zu verdichteten Dynastien vollzog sich erwartungsgemäß wesentlich über die Herrschaftssicherung. "Die Weitergabe der Herrschaft von einer Generation an die nächste sowie die stets neu auszuhandelnde Partizipation daran waren bedeutsame Triebkräfte für die Verstetigung des Verwandtschaftsverbands, dessen soziale Abschließung und die Ausgestaltung des inneren Beziehungsgefüges" (513). Dass angebliche oder tatsächliche Präzedenzfälle bzw. Traditionen, Normen wie Standesanspruch, Gleichberechtigung und Fürsorgepflicht sowie schließlich gegebenenfalls auch konfligierende Rechtsvorstellungen je nach reklamiertem Bedarf sowohl für Teilungs- als auch für Einheitssukzessionslösungen eingesetzt wurden, verwundert ebenfalls nicht, erfährt hier aber überzeugende empirische Untermauerung. Bestätigt werden u.a. auch die schon frühe Heranziehung außerverwandtschaftlicher bzw. -dynastischer Konfliktmoderatoren und Garanten, die Tendenz zur Abschichtung der Ansprüche von Frauen, die je nach Konfession und Situation unterschiedliche Wirkung der Reichskirche und die wechselnde Bedeutung oder Auswirkung finanzieller Apanagen. Auf die Vielfalt der aufwendig rekonstruierten materiellen und immateriellen Dimensionen und Ausprägungen der "symbolischen Ordnung, [...] welche die Existenz und Bedeutung der Institution 'Dynastie' in den Sinnhorizonten der Akteure verankerte" (367-512, Zitat 517), kann vorliegend gar nicht eingegangen werden. Mit der "behutsam(en), aber entscheidend(en)" Differenzierung meiner 1998 aufgestellten These, dass die Dynastien "'Ergebnis bewußten Handelns'" gewesen seien (521), kann man ebenfalls ohne weiteres konform gehen, zumal ja mittlerweile auch anderweitig - im Rahmen der Managementwissenschaft - die Besonderheit und Rolle einer 'embedded rationality' entdeckt worden ist.
Etwas bedenkenswerter im Sinne weiteren Forschungsbedarfs erscheint mir hingegen die weitgehende Verflüssigung oder gar Auflösung der Annahme eines den Akteuren je nach Situation mehr oder weniger präsenten, inhaltlich von bestimmten, gewiss nicht begrifflich präzis gefassten Grundüberzeugungen abgesehen, gewiss unterschiedlich füllbaren dynastischen Gemeininteresses oder einer dynastischen Räson (vgl. theoretisch-analytisch 26-31), ebenfalls eine zentrale Argumentationslinie der Studie. Zwischen aktual-situativ wechselnd ausgehandelten Füllungen und (natürlich historisch abzulehnenden) überzeitlich-substanzialistischen Zuschreibungen öffnet sich doch ein weites Feld. Aushandlungsprozesse dürften - davon geht auch der Autor grundsätzlich aus - weniger je neu beginnen und sich je frei entfalten als auf Präzedenzen und Routinen aufbauen, die auch inhaltliche Vorstellungen transportieren. Damit verknüpft und darüber hinausgehend darf unterstellt werden, dass in ein Gemeininteresse oder vorsichtiger: Gemeinbedürfnis auch akteursübergreifende Wahrnehmungen und Einschätzungen eingehen. Oder anders ausgedrückt, dynastische Räson muss nicht nur ein soziokulturell-politisches Produkt unmittelbar beteiligter Akteure sein, sondern kann auch von außen eingebracht und dadurch nicht weniger wirksam werden.
Das führt abschließend zu Überlegungen zu den Grenzen dieser bahnbrechenden Fallstudie. Der 'Konfessionalist' unter den Frühneuzeithistorikern wird vermutlich die Bedeutung konfessioneller und gemeinchristlicher Imprägnierung des Dynastieverständnisses noch höher einschätzen, als die Studie es unternimmt. Man könnte z.B. dynastische Identität, Gemeinsinn, Gemeininteresse und sogar dynastische Räson (vgl. auch zeitgenössisch thematisierte Ansätze des Alten Testaments) entsprechend transzendental-biblisch vertiefen, ohne historisch fehl zu gehen. Dann wäre zu reflektieren, ob die durch das Reich grundsätzlich mehr oder weniger gesicherte, vergleichsweise quietistische Umwelt nicht einen europäisch nicht ohne weiteres vergleichbaren Typus der Dynastiebildung hervorgebracht hat. In Frageform: Beschleunigen und intensivieren scharfe Rivalitätsverhältnisse Dynastiebildung und Dynastieräson? Und: treten derartige Rivalitäten regelmäßig auf, wenn es statt um im unteren oder mittleren Stratum des Hochadels gelagerte Grafendynastien um höher positionierte Fürstenhäuser geht?
Dass die vorliegende Qualifikationsschrift zu derartigen Fragen anregt, ist jedoch keineswegs ein Mangel, sondern zählt zu den Vorzügen, die die Münsteraner Frühneuzeitforschung mit ihr wieder einmal unter Beweis stellt.
Lennart Pieper: Einheit im Konflikt. Dynastiebildung in den Grafenhäusern Lippe und Waldeck in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (= Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit; Bd. 49), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2019, 623 S., 20 Abb., eine Kt., 3 Tbl., ISBN 978-3-412-51475-4 , EUR 90,00
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