Nach Jahren intensiver Vorbereitung fand 2016 die vielbeachtete Ausstellung "Postwar. Art Between the Pacific and the Atlantic, 1945-1965" im Münchner Haus der Kunst statt. Sie setzte sich zum Ziel, eurozentrische Perspektiven zu überwinden. Der globalgeschichtliche Ansatz weitete den Blick nicht nur über den Ost-West-Konflikt hinaus, sondern offenbarte auch die zunehmende Verzahnung von Kunst und Politik in vielen Teilen der Welt.
Solche Impulse greift der Sammelband "Rethinking Postwar Europe. Artistic Production and Discourses on Art in the late 1940s and 1950s" auf: Er fragt erstens danach, was globalgeschichtliche und postkoloniale Perspektiven für eine Kunstgeschichtsschreibung bedeuten, die ihren Fokus nicht ausschließlich, aber primär auf Europa legen. Dazu gehöre, die Diversität von Kunst in Europa aufzuzeigen, um Kanonisierungs-, Marginalisierungs- und Exklusionsprozesse sichtbar zu machen. Zweitens untersucht er die Rolle von Bildender Kunst, Architektur und Film in der Aushandlung neuer Ordnungen nach 1945. Dabei fächert er eindrücklich die vielfältigen Motivationen von Akteuren auf, die sich politische und historische Kontexte auf eigensinnige Weise aneigneten.
Die Publikation reiht sich ein in jüngere Forschungen zu Kulturen und Kunstgeschichten des Kalten Kriegs in Europa, die ihren Fokus auf Pluralitäten und Verflechtungen legen und eine dezentrale Perspektive einnehmen. [1] Mit simplifizierenden, bipolaren "Cold War narratives" brechen aber auch Ausstellungen zur Kunst aus der Zeit des Kalten Kriegs, dessen Ideologien in der Kunstgeschichtsschreibung gleichwohl nachwirken. [2] Der Sammelband gliedert sich deshalb weder anhand gängiger politisch-geografischer noch stilistischer Kriterien. Stattdessen wählt er die vier "fundamental but open categories": "narratives", "practices", "identities" und "particularities". Dadurch vereint er eine Vielzahl an Themen, welche die Autorinnen und Autoren mit unterschiedlichen Methoden erschließen.
Die erste Sektion, "narratives", kontrastiert unterschiedliche Ordnungsentwürfe, die Kuratoren und Filmemacher vermittelten. Éva Forgács untersucht in ihrem Beitrag zu Wilhelm Sandberg Visionen einer "neuen" Ära im Sinne eines Fortführens der Avantgardebewegung und der ihr zugeschriebenen Progressivität. Dem stellt Simon Vagts die Auseinandersetzung mit "Brüchen", mit Traumata und Zerstörungen infolge des Zweiten Weltkriegs entgegen. Seine Methode des close reading erweist sich als äußerst fruchtbar, um die ästhetischen und politischen Dimensionen der Filme des italienischen Regisseurs Roberto Rossellinis aufzuschlüsseln.
Der Schwerpunkt des zweiten Teils liegt auf künstlerischen Praktiken, die Beziehungen und Vernetzungen neu zu denken und gestalten suchten. Barbara Lange und Dirk Hildebrandt analysieren am Beispiel des dänischen Künstlers Asger Jorn die enge Verbindung zwischen Kunst(-theorie), politischer Lektüre und politischem Anspruch an Kunst. Barbara Lange beleuchtet, wie Jorn seine Theorie von Kunst als "lebendiger Form" durch die Gründung einer Künstlergemeinschaft umzusetzen versuchte. Das ergänzt Dirk Hildebrand, indem er Vernetzungen nachspürt, die Jorn durch historische und politische Referenzen in seine Werke einschrieb. Agata Pietrasik unterzieht Marian Bogusz' Entwürfe einer internationalen Künstlerkolonie am Ort seiner ehemaligen Gefangenschaft, dem KZ Mauthausen, einer architekturhistorischen Analyse. Bogusz' Utopie inspiriere dazu, über Erinnerungskultur in Europa und die Beziehung zwischen "remembrance" und "commemoration" neu nachzudenken.
Das dritte Kapitel steht unter dem Titel "identities". Hildegard Frübis zeichnet die Formierung jüdischer Identitäten nach, und zwar am Beispiel der Fotografien Roman Vishniacs von Displaced Persons Camps. Sie zeigten neue Anfänge, Zwischenphasen und Übergänge im Spannungsfeld zwischen stilistischer Nähe und politischer Distanz zu Europa. Regina Wenninger und Tanja Zimmermann beschäftigen sich mit politischen Instrumentalisierungen von Kunst: Erstere anhand der Zeitschriften tendenzen und Das Kunstwerk, die sich mit Kunst jenseits des Eisernen Vorhangs beschäftigten. Letztere am Beispiel von Ausstellungen Naiver Kunst, die sich gegen geopolitische Spaltungen wandten, wobei der Schwerpunkt auf dem ehemaligen Jugoslawien liegt.
Der vierte und letzte Teil, "particularities", konzentriert sich auf Fallstudien, die quer zu binären Deutungsmustern des Kalten Kriegs stehen. Elisabeth Ansel dekonstruiert nationale Stereotype am Beispiel der politisierten und nationalisierten Rezeption des irischen Künstlers Louis le Brocquy. Pedro Lapa stellt mit Joaquim Rodrigo einen Künstler vor, der in seinen Abstraktionen scharfe Kritik am Portugiesischen Kolonialkrieg ausübte. Seine Werke stünden damit im Gegensatz zu den Verdrängungsmechanismen, die mit den Deutungen moderner Kunst nach 1945 einhergingen. Die Ausblendung der NS-Vergangenheit konstatiert auch Regine Heß. Sie widmet sich Architekturausstellungen in Darmstadt, Hannover und Berlin, wobei sie personelle und ideelle Kontinuitäten zur Zwischenkriegszeit herausarbeitet.
Angesichts der inhaltlichen und methodischen Vielfalt der Beiträge ist die Wahl offener Kategorien zur Gliederung des Sammelbands sinnvoll. Sie bilden jedoch nur bedingt unterschiedliche Dimensionen von Kunstproduktion und -diskursen nach 1945 oder mögliche zukünftige Forschungsfelder und -perspektiven ab. Besonders große Schnittmengen gibt es zwischen den in unterschiedlichen Teilbereichen angesiedelten Beiträgen zu Kunstdiskursen (u. a. Forgács, Wenninger, Ansel). Das lädt dazu ein, weiter darüber nachzudenken, unter welchen Aspekten und entlang welcher Themenfelder ein solches neues Forschungsfeld zu erschließen wäre.
An einzelnen Stellen wären inhaltliche Vertiefungen fruchtbar für die eingangs aufgeworfenen Fragen nach Prozessen der Marginalisierung und Exklusion gewesen, beispielsweise hinsichtlich einer stärker dezentralen Perspektive auf Erinnerungskulturen in Europa, welche die Konflikthaftigkeit von Erinnerungen mit einbezieht. Das gilt ebenso für die vielfältigen und ambivalenten Deutungstraditionen der Kunst der Moderne. Die Kunst-, Museums- und Ausstellungszene der späten 1940er und 1950er Jahre war zweifelsohne ein von Männern dominiertes Feld, was der Sammelband stellenweise problematisiert. Das spiegelt sich auch in der Auswahl der besprochenen Akteure wider, die alle männlich sind. Die Rolle von Kuratorinnen, Galeristinnen, Künstlerinnen und Sammlerinnen in den Kanonisierungsprozessen der Nachkriegszeit, aber auch genderhistorische Fragestellungen können den Blick auf Kanonisierungs- und Marginalisierungsprozesse weiten.
Der Sammelband leistet einen wichtigen und in den einzelnen Aufsätzen tiefgründigen Beitrag zur Vermessung eines neuen Forschungsfelds. Es ist zu wünschen, dass er zu weiteren Forschungen und methodischen Diskussionen zu diesem relevanten Themenfeld "Artistic Production and Discourses on Art in the late 1940s and 1950s" inspiriert.
Anmerkungen:
[1] Annette Vowinckel / Marcus M. Payk / Thomas Lindenberger (eds.): Cold War Cultures. Perspectives on Eastern and Western Societies, New York 2012; Noemi de Haro García / Patricia Mayayo / Jesús Carrillo (eds.): Making Art History in Europe After 1945, New York 2020; Julia Allerstorfer / Monika Leisch-Kiesl: Global Art History. Transkulturelle Verortungen von Kunst und Kunstwissenschaft (=Linzer Beiträge zur Kunstwissenschaft und Philosophie; Bd. 8), Bielefeld 2017.
[2] Eckhart Gillen / Peter Weibel (eds.): Art in Europe 1945-1968. Facing the future, Tielt 2016; Stephanie Barron (ed.): Art of Two Germanys. Cold War Cultures, New York 2009.
Barbara Lange / Dirk Hildebrandt / Agata Pietrasik (eds.): Rethinking Postwar Europe. Artistic Production and Discourses on Art in the late 1940s and 1950s, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2020, 268 S., 51 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-51400-6, EUR 40,00
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