Die Forschungsrichtung der Gender Studies, bekannt bereits seit den 1960er Jahren in den Kultur-, Sozial- und Geisteswissenschaften, hat verschiedene Ansätze, Theorien und Begriffe entwickelt, um wissenschaftlich fundiert differenziertes Geschlechterwissen zu gewinnen. Auch die Sozialwissenschaftlerin Joanna Staśkiewicz verortet ihre Dissertation in diesem interdisziplinären Forschungsbereich und unternimmt mithilfe des Gender-Ansatzes den Versuch, die Geschlechtergerechtigkeit in der katholischen Kirche und der Gesellschaft in Polen nach 1989 zu untersuchen. Zentral für die Verfasserin ist das Verständnis von Gender als soziokulturelles Klassifikationsschema und substanzieller Rahmen für "performative Prozesse, in denen Gender als Matrix gesellschaftlicher und kultureller Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit konstruiert wird" (12 f.). Sie analysiert damit in Anlehnung an Ludwig Wittgenstein einen "Nichtfall", nämlich die "Nicht-Existenz einer polnischen katholischen Frauenbewegung" (293). Bedingt durch ihre strukturelle und ideologische Vielfalt, versucht diese für einen Wandel hin zu mehr Geschlechtergleichberechtigung innerhalb der Kirche zu plädieren, distanziert sich aber zugleich von der Vereinbarkeit feministischer Identität mit dem katholischen Glauben und lehnt den Gender-Ansatz als Gefährdung der katholischen Anthropologie ab.
Eines der zentralen Ziele der vorliegenden Analyse besteht darin zu untersuchen, inwieweit sich die katholischen (Frauen-)Organisationen in Polen zur Frauenbewegung zählen lassen. Zu diesem Zweck skizziert die Verfasserin zu Beginn der Studie vor dem Hintergrund der globalen Entwicklungen des Feminismus die wichtigsten Zäsuren der polnischen Frauenbewegung: Von der ersten Welle Ende des 19. Jahrhunderts, die sich durch eine bemerkenswerte und heute kaum denkbare Zusammenarbeit polnischer Katholikinnen und Feministinnen auszeichnete; über die traditionell-konservative Klerikalisierung katholischer (Frauen-)Organisationen nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1918 sowie ihre Nicht-Existenz 1939-1989; bis hin zur Entstehung katholischer (Frauen-)Organisationen in Polen nach 1989. Trotz der reformierten Strömung des offenen, liberalen Katholizismus, verbunden mit den bereits in der politischen Tauwetterperiode der 1950er Jahre als Treffpunkte für katholische Laien gegründeten Klubs der Katholischen Intelligenz, wird der zeitgenössische polnische Katholizismus seit 1989 primär durch traditionelle und religiös-nationale Werte geprägt. Gleichzeitig betont Staśkiewicz die Bedeutung von emanzipatorischen Entwicklungen wie die Infragestellung der Heteronormativität der Geschlechterordnung und des Biologismus sowie die Forderung nach mehr Frauenrechten, die in Westeuropa und den USA nach dem Zweiten Vatikanum 1962-1965 im Zuge der Formierung neuer Frauenbewegungen der zweiten Welle einsetzten und als wichtige Bedingung für die Entstehung der feministischen Theologie sowie autonomer Frauenorganisationen gelten. Aufgrund der Dominanz des traditionellen Katholizismus und der starken Klerikalisierung des Landes ist diese Entwicklung, wie Staśkiewicz unterstreicht, in Polen bisher ausgeblieben. Zum Programm der katholischen (Frauen-)Organisationen wurde stattdessen das Konzept des "neuen Feminismus", den Johannes Paul II. 1995 als Gegenposition zum säkularen Feminismus der zweiten Welle sowie zum Gender-Ansatz formulierte und in den Kontext der kirchlichen pro-life-Kampagne stellte.
Im Zentrum der Untersuchung stehen fünf in den 1990er und 2000er Jahren gegründete katholische (Frauen-)Organisationen, deren Geschichte und Praxis in der Forschungsliteratur bislang kaum gewürdigt wurden: der Polnische Verband Katholischer Frauen (PZKK), das Forum Polnischer Frauen und der Verein Forum Katholischer Frauen, der Verein Amicta Sole sowie der Christliche Verein Junger Frauen. Hinzu kommt ein Exkurs über das Phänomen von Radio Maryja, einem in den 1990er Jahren gegründeten erzkonservativen Radiosender mit einer vorwiegend weiblichen Anhängerschaft, deren Zahl in die Millionen geht.
In Anlehnung an Josef Mitterers philosophisches Konzept des Non-Dualismus sowie an Ludwig Flecks wissenstheoretischen Begriff des Denkstils legt Staśkiewicz ihrer Definition der katholischen Frauenbewegung einen "katholisch-feministischen Denkstil" (37) zugrunde. Gegenstand der Analyse ist die Positionierung der (Frauen-)Organisationen in den politisch-moralischen Schlüsseldebatten nach 1989 am Beispiel der Abtreibungs-, Gleichstellungs- und Anti-Gender-Debatte ebenso wie im Rahmen ihrer internationalen Aktivitäten am Beispiel der 4. Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking. Die Verfasserin vereint in ihrer Untersuchung diverse Ansätze, unter anderem Judith Butlers poststrukturalistische Theorie der Performativität, das Konzept der Iterabilität von Jacques Derrida und Roland Barthes Mythentheorie, die es ihr ermöglichen, die Aneignungen und Umschreibungen von Elementen des feministischen Diskurses aufzudecken. Um nachvollziehen zu können, wie sich die Strukturen, die Identitätssuche und der Repräsentationsanspruch der Organisationen konstituieren, hat Staśkiewicz ihr Forschungsmaterial in vier Kategorien eingeteilt: Organisatorische Struktur und Netzwerk, Identitätsbildung, Weiblichkeitskonstruktionen und Teilhabe in der Kirche. Nach ihnen richtet sich auch die Gliederung der fünf Kapitel, in denen die Verfasserin untersucht, wie die (Frauen-)Organisationen Weiblichkeit, Geschlechtergerechtigkeit, Feminismus und die Rolle der Frau in der Kirche und der Gesellschaft deuten und wie sie dabei, hier skizziert am Beispiel des polnischen Marienkultes und des Mythos der "Mutter Polin", auf die national-katholische Mythologie zurückgreifen. Die fokussierten Kategorien werden anhand einer Verbindung aus Elementen der Inhalts- und poststrukturalistischen Diskursanalyse untersucht, die neben der PZKK-Monatsschrift List do Pani (Brief an die Frau) auch Stellungnahmen, offene Briefe, Aufsätze sowie Monografien der Organisationen ebenso wie die katholische Tagespresse und Medien des offenen Katholizismus umfassen.
Mit der vorliegenden Studie gelingt es Staśkiewicz gewiss, das fast unberührte Forschungsfeld der katholischen pro-life-Organisationen in Polen nach 1989 zu erschließen und systematisch zu analysieren. Für einen versierten Leser und Kenner der polnischen (Zeit-)Geschichte bieten jedoch die Ausführungen zu dem Marienkult, dem Mythos "Pole-Katholik" oder der "Bedeutung des katholischen Glaubens für Polen" und die daraus resultierende Erkenntnis, dass die katholischen (Frauen-)Organisationen im Zuge von intensiven Klerikalisierungsprozessen eng an die kirchlichen Strukturen angebunden sind und durch ihre traditionell-katholische Prägung als "Sprachrohr der polnischen Amtskirche fungieren" (17), wenig Neues. Auch wäre zu betonen, dass die Verfasserin Begrifflichkeiten, wie zum Beispiel "Nation" oder "Gesellschaft", nicht hinreichend differenziert beziehungsweise historisiert. Insgesamt jedoch hat Staśkiewicz eine informative und abwägend argumentierende Studie vorgelegt, die einen differenzierten Blick auf die Handlungsstrategien von Frauen in der katholischen Kirche sowie auf die gesellschaftliche Rolle der katholischen (Frauen-)Organisationen im Nachwende-Polen liefert.
Joanna Staśkiewicz: Katholische Frauenbewegung in Polen? Zum Wandel der Geschlechterverhältnisse in der katholischen Kirche in Polen nach 1989, Bielefeld: transcript 2018, 359 S., ISBN 978-3-8376-4370-1, EUR 39,99
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.