Die Zeitgeschichtsschreibung hat dem Radikalenbeschluss von 1972 und dem Streit um "Radikale" im öffentlichen Dienst der Bundesrepublik lange kaum Beachtung geschenkt. Überblicke widmen der Thematik in der Regel nur wenige Zeilen. In Andreas Rödders Grundriss zur Geschichte der Bundesrepublik 1969-1990 hieß es vor ein paar Jahren noch lapidar, dass sich die jahrelange Auseinandersetzung um die Beschränkung des Zugangs zum öffentlichen Dienst für (vor allem kommunistische) Bewerberinnen und Bewerber bislang "historiographisch nicht in einer Kontroverse fortgesetzt" habe. [1]
Womöglich ist es mit der Ruhe um den Radikalenbeschluss nun vorbei. Denn Alexandra Jaeger wendet sich in ihrer von Axel Schildt betreuten Hamburger Dissertation über die Vorgeschichte, Umsetzung und Folgen des Beschlusses in der Hansestadt gegen zwei Thesen, die sich in den raren Forschungen zum Thema einer gewissen Beliebtheit erfreuen.
So widerspricht Jaeger - erstens - dem in meiner eigenen Doktorarbeit über den Schutz des westdeutschen Staates vor politischer Subversion enthaltenen Argument, wonach die Radikalendebatte ungleich stärker als bisher als NS-Nachgeschichte analysiert werden müsse [2]. Stattdessen hebt Jaeger mit Verweis auf den in den Quellen vorherrschenden Tenor die Bedeutung des Kalten Krieges, von Radikalisierungsprozessen nach 1968 sowie des Konflikts zwischen SPD und KPD seit der Weimarer Republik hervor (13, 69 passim).
Zweitens wendet sich Jaeger gegen Einschätzungen, wonach die 1972 etablierte Kontroll- und Ablehnungspraxis unterm Strich "nicht sonderlich illiberal" (178) gewesen sei - wie bspw. auch die von Jaeger nicht zitierten Edgar Wolfrum und Eckhard Jesse meinen. [3] Jaeger argumentiert dagegen, dass sich die Frage, "wie liberal oder illiberal ein Grundrecht angewendet" wurde, "nicht allein aus der Zahl der Fälle, sondern aus der Qualität der Verfahren" ergebe: Schon "wenige Fälle" an einer Universität sorgten für "Unruhe" (175f.).
Jaeger untersucht den Umgang mit "Verfassungsfeinden" im öffentlichen Dienst Hamburgs zwischen 1949 und 1987 mit dem Fokus auf einen Politikbereich, den man als staatliche Ordnungspolitik bezeichnen könnte: Ihre staatlichen, partei- und bewegungspolitischen Quellen handeln in der Regel von Verwaltung, Recht, Sicherheit und/oder Innenpolitik.
Die Studie umfasst vier Teile. Der erste behandelt - nach einem kurzen Überblick zur Vorgeschichte, der zeigt, dass die sog. Regelanfrage in Hamburg schon seit 1961 bestand -, wie die Exekutive des Stadtstaates in den Jahren 1969 bis 1971 eine "neue Praxis" (39) - die "Treuepflicht" kommunistischer Bewerberinnen und Bewerber sollte Vorrang haben vor dem Schutz vor Diskriminierung ("Parteienprivileg") - zunächst qua Verwaltung und Verfassungsschutz etablierte und im November 1971 in einer Pressemeldung öffentlich kommunizierte, die als direkter Vorläufer des Radikalenbeschlusses vom 28. Januar des Folgejahres gelten kann.
Der zweite Teil untersucht vor allem aus der Perspektive der Behörden, seltener der betroffenen Linken, die Hamburger Verfahren zur Überprüfung der "Verfassungstreue" zwischen 1972 und 1978, namentlich mit Blick auf Strukturen, Akteure, Regelanfrage, Ablehnungsbescheid, Anhörung, Entscheidungen der Exekutive, politischen Protest gegen Ablehnungen und schließlich Gerichtsentscheide.
Der dritte Teil stellt dar, wie politische Akteure in Hamburg zwischen 1972 und 1977 versuchten, eine möglichst rechtsstaatliche Überprüfungspraxis zu generieren, ohne dass darüber Einigkeit erzielt wurde, was unter Rechtsstaatlichkeit (und Verfassungsfeindlichkeit) zu verstehen sei.
Der letzte Abschnitt nimmt das langsame "Ende des Radikalenbeschlusses" in den Blick - von der Abschaffung der Regelanfrage 1978/79 bis zum Auslaufen der Verfahren 1987.
Zu den vielen interessanten Befunden des Buches zählt, dass die systematische Ablehnung von kommunistischen Bewerberinnen und Bewerbern für den Staatsdienst im Fall Hamburgs nicht von Konservativen angebahnt wurde, sondern von Sozialdemokraten. Jaeger arbeitet überzeugend heraus, dass maßgebliche SPD-Politiker ihre Partei als eine "Staatspartei" profilierten, deren Radikalenpolitik zwar rhetorisch auch auf die Abwehr der Rechten zielte, faktisch aber fast nur Linke traf. Bei Anhängern der CDU sowie alten Menschen stieß sie damit auf mehr Zustimmung als bei den eigenen Wählern (116).
Nicht nur für Historikerinnen und Historiker, sondern auch für alle lesenswert, die heute die Frage umtreibt, ob ein neuer "Radikalenerlass" sinnvoll sein könnte, ist das Kapitel über die Ablehnungsverfahren. [5] Was Jaeger beschreibt, legt den Schluss nahe, dass die staatliche Ordnungspolitik, die Josef Foschepoth mit Blick auf die 1950er und 1960er als "Staatsdemokratie" untersucht hat, hier unter anderen Umständen fortgeführt wurde. [5]
Nicht überzeugt hat mich der Nachdruck, mit dem Jaeger die Bedeutung von personellen NS-Kontinuitäten für die Politik gegenüber "Verfassungsfeinden" minimisiert. So erfährt man zum Beispiel erst spät und fast nebenbei, dass der Leiter des Personalamts des Senats - und damit einer der Institutionen, die seit 1969 auf die Etablierung der neuen Praxis hinarbeiteten - bis 1974 mit Franz Pillat ein ehemaliger Bezirksamtsleiter im besetzten Tschechien war, der einer Zeugenaussage von 1950 zufolge im Krieg als V-Mann des SS-Sicherheitsdienstes (SD) "mit einem eigenen Netz an V-Leuten" operierte (163). Auch sein bis 1983 amtierender Nachfolger, Karl-Heinz Delius, hatte sein Jurastudium 1941 begonnen und an den Eroberungskriegen in Osteuropa teilgenommen, bevor er in sowjetische Kriegsgefangenschaft geriet (164). Derlei Befunde sprechen dafür, dass die Hamburger Konstellation mit denen, die ich untersucht habe, vergleichbar ist: Die "unbemerkte Tendenzwende" von 1969 ff. wurde von "alten 49ern" wie Pillat und Delius und "jungen 49ern" - in Hamburg etwa Heinz Ruhnau - gemeinsam vorangetrieben. [6] Dass die Jungen in den Quellen deutlicher sichtbar sind, heißt nicht, dass die Alten unbedeutend waren.
Unter dem Strich hat Alexandra Jaeger aber ein wichtiges und auch für interessierte Laien lesenswertes Buch vorgelegt, das hoffentlich dazu beiträgt, dass die historiografische Debatte um den Radikalenbeschluss und seine Folgen nunmehr an Fahrt gewinnt. [7]
Anmerkungen:
[1] Andreas Rödder: Die Bundesrepublik Deutschland 1969-1990, München 2003, 173.
[2] Dominik Rigoll: Staatsschutz in Westdeutschland. Von der Entnazifizierung zur Extremistenabwehr, Göttingen 2013.
[3] Edgar Wolfrum: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis in die Gegenwart, Bonn 2007, 323; Eckhard Jesse: Der "Extremistenbeschluss" von 1972, in: Jahrbuch Extremismus & Demokratie 2016, 11-34.
[4] Zur Ablehnungspraxis lesenswert auch Jan-Henrik Friedrichs: "Was verstehen Sie unter Klassenkampf?" Wissensproduktion und Disziplinierung im Kontext des "Radikalenerlasses", in: Sozial.Geschichte Online 24 (2019), 67-102.
[5] Josef Foschepoth: Überwachtes Deutschland. Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik, Göttingen, 2012; ders.: Staatsschutz und Grundrechte in der Adenauerzeit, in: Geheimschutz transparent? Verschlusssachen in staatlichen Archiven, hgg. v. Jens Niederhut / Uwe Zuber, Essen 2010, 27-58.
[6] Rigoll, Staatsschutz, 208-334.
[7] Regelmäßige Updates hierzu bietet der Blog des Heidelberger Forschungsprojekts "Verfassungsfeinde im Land?": https://radikalenerlassbawuede.com (25.09.2020).
Alexandra Jaeger: Auf der Suche nach "Verfassungsfeinden". Der Radikalenbeschluss in Hamburg 1971-1987 (= Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte; Bd. 58), Göttingen: Wallstein 2019, 560 S., 25 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-3410-6, EUR 46,00
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