Die Bedeutung von Kreuz und Kruzifix scheint für die mittelalterliche Kunst- und Religionsgeschichte hinlänglich bekannt und gut erforscht. So ist die Zahl der Studien, die sich bereits mit diesem zentralen Symbol des christlichen Glaubens befasst haben, kaum noch überschaubar. Dies gilt auch und insbesondere für die Zeit der Karolinger (8.-10. Jh.), in der die christliche Kreuzestheologie und -frömmigkeit bekanntermaßen eine neue intellektuelle Dynamik entwickelte und das Bild des Gekreuzigten geradezu revolutioniert wurde. Welche neuen Erkenntnisse, so mag man sich fragen, sind von einem weiteren Buch zu diesem Thema zu erwarten?
Die Stärke der neuen Publikation von Beatrice E. Kitzinger liegt darin, dass sie die bekannten kunsthistorischen Debatten nicht fortführt, sondern im Sinne des "material turn" methodisch auf eine neue Ebene hebt. Gegenstand der Untersuchung sind gemalte Bilder des Kreuzes in liturgischen Handschriften, wobei der Hauptfokus auf Miniaturen in Evangeliaren karolingischer Zeit liegt. Die Publikation Kitzingers beansprucht keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, sondern entfaltet in vier eigenständigen Kapiteln die Thesen, welche in einer programmatischen Einleitung (3-17) vorausgeschickt werden. Dabei werden herausragende Codices (Gellone-Sakramentar, Krönungssakramentar Karls des Kahlen; Paris, BnF, Ms. lat. 1141 und 12048) ebenso in die Überlegungen einbezogen wie unbekanntere Werke (etwa das Evangeliar von Angers, BM, Ms. 24).
Das Interesse der Autorin gilt solchen Miniaturen, in denen die Materialität und 'Gemachtheit' der dargestellten Artefakte explizit vor Augen geführt werden: Kreuze aus Holz, Gold oder Silber, besetzt mit Edelsteinen und Perlen, mit trapezförmigen Enden, versehen mit Pendilien, Henkeln, befestigt auf Tragestangen. Nun ist die Beobachtung, dass gemalte Kreuzbilder des frühen Mittelalters oftmals auf Werke der Goldschmiedekunst - das heißt auf reale liturgische Geräte - rekurrieren, keineswegs neu. Innovativ ist jedoch, dass Kitzinger diese Darstellungen im vollen Umfang ernst nimmt und diskursiv aufwertet. So lautet die zentrale These, dass durch die zur Schau gestellte Materialität der Zeitmodus der Präsenz (present register) betont und die grundlegende Wirksamkeit (efficacy) der Artefakte unterstrichen wird. Auf diese Weise gelingt es Kitzinger, sich von älteren kunsthistorischen Deutungen abzusetzen, die frühmittelalterliche Bilder des Kreuzes und Gekreuzigten vornehmlich als Visualisierungen komplexer theologischer Konzepte verstanden. Ohne diese intellektuelle Dimension der Bilder abzustreiten, plädiert die Autorin für eine Betrachtungsweise, die die funktionalen und praxeologischen Aspekte der Bilder und Bildträger berücksichtigt.
Nur auf den ersten Blick überraschend, kann dies am spezifischen Zeichencharakter des Kreuzes dargelegt werden. Theologisch gesehen verweist dieses Zeichen bekanntlich in die Vergangenheit und in die Zukunft: Es erinnert an den historischen Opfertod Christi und kündigt die zweite Wiederkunft des Menschensohns an (Mt. 24, 30). Nach dem liturgischen Verständnis des frühen Mittelalters hatte das Kreuz aber als signum weniger eine verweisende Funktion, als eine heilsvermittelnde Wirkung im Kontext der Messe. Diese Wirkung wurde im frühen Mittelalter sowohl der Geste des Zelebranten als auch den vielen Kreuz-Artefakten zugeschrieben, die in liturgischen wie paraliturgischen Handlungen zum Einsatz kamen (Prozessionskreuze, Benediktionskreuze). In diesem Sinne waren Kreuze und Kruzifixe sicherlich nie nur Zeichen für transzendente Realitäten oder Spiegel (sakramental-)theologischer Positionen, sondern immer auch potentiell wirksame signa im Kontext der Liturgie.
Kitzingers These ist nun, dass die spezifische Wirksamkeit in den Miniaturen selbst zum Thema gemacht und bildrhetorisch reflektiert wird. Zudem ist sie der Überzeugung, dass die efficacy der dargestellten Kreuze durchaus mit der spezifischen Qualität der Bildträger, der liturgischen Handschriften, korrespondiert und kommuniziert. So wird anhand unterschiedlicher Bild-Text-Konstellationen aufgezeigt, mit welch gestalterischem Kalkül die gemalten Kreuze in die Texte platziert wurden, um Schrifträume zu kreieren und diese mit dem liturgischen Raum des Zelebranten zu verschränken. Auf überzeugende Weise gelingt dies etwa am Beispiel der Miniaturen im sogennanten Gellone-Sakramentar aus dem späten 8. Jahrhundert (Kap. 1). Anhand der erstaunlichen Varianz der dargestellten Kreuze in dieser Handschrift kann nachvollzogen werden, wie das signum des Kreuzes (in der Hand der Maria/Ecclesia, fol. 1v) den Beginn der Schrift segnet, sich mit dieser verbindet (fol. 123v), um schließlich mit der T-Initiale des Messkanons zum berühmten Kreuzigungs-Bild zu verschmelzen (fol. 143v). Die liturgischen Aktionen dringen auf diese Weise in den Codex ein, wie umgekehrt den Buch-Illuminationen die Funktion zukommt, den Sinn des Ritus zu erhellen. Den verschiedenen Darstellungen des Kreuzes kommt zudem die Aufgabe zu, die Zeitebenen (multitemporality) in differenzierter Weise zur Anschauung zu bringen, wobei dem Modus der Präsenz - im liturgischen Kontext - die zentrale Stellung eingeräumt wird.
Wie umfassend Kreuzformen das Text-Layout bestimmen, kann Kitzinger aber vor allem an mehreren karolingischen Evangeliaren aufweisen (Kap. 2-4). Hier illustriert dieses Zeichen nicht nur einzelne Textabschnitte, sondern fungiert als Leitmotiv und Strukturelement ganzer Handschriften. In diesem Fall erhellt das Kreuzzeichen den besonderen Status der Buchgattung an sich, verbürgt doch das Evangelienbuch - als "Heilige Schrift" - in besonderer Weise die Präsenz Christi in der Messe.
Insgesamt bietet das Buch von Beatrice E. Kitzinger nicht nur einen wertvollen Forschungsbeitrag zur Ikonografie des Kreuzes und eine Fülle scharfsinniger Bildanalysen, sondern beansprucht darüber hinaus, generelle Aussagen zum Status der Kunst in karolingischer Zeit zu machen. Dabei ist es anerkennenswert, dass die Autorin nicht der Versuchung erliegt, die 'Macht der Bilder' im Mittelalter zu überschätzen: Kitzinger beschwört keine vermeintlich eigenmächtige agency der (Kreuz-)Artefakte und Codices, sondern beschreibt vielmehr eine efficacy, die stets an die Praxis menschlicher Akteure gebunden bleibt und vom "Nutzen" (utilitas) der Objekte im Kontext der liturgischen Heilsvermittlung abhängt.
Ein wenig zu kurz kommt dabei die Diskussion des zentralen Präsenz-Begriffes: So versteht Kitzinger unter "Präsenz" explizit die materiale Gegenwart des Kunstwerks (art's own presence); nicht diskutiert wird dabei die durch die Sakramente vermittelte Präsenz Gottes (vgl. 213, Anm. 41). Dies ist insofern verständlich, als dies bereits frühere Studien zum frühmittelalterlichen Bild des Kreuzes geleistet haben (Celia Chazelle, Éric Palazzo, Tobias Frese) und die Argumente des vorliegenden Buches in eine andere Richtung zielen. Dennoch fragt man sich: In welchem Verhältnis stehen die beiden so verschiedenen Modi der Präsenz? Kann man die wirkmächtige Präsenz der Artefakte im liturgischen Kontext sinnvoll diskutieren, ohne diese in irgendeine Weise auf die eucharistische Realpräsenz - als das zentrale Gegenwarts-Versprechen der christlichen Messe - zu beziehen?
Auch wenn an dieser Stelle noch Diskussionsbedarf bestehen mag, so ist doch der Wert der vorliegenden Publikation nicht hoch genug einzuschätzen, vermittelt sie der mediävistischen Kunstgeschichte doch wichtige Impulse und neue methodische Perspektiven.
Beatrice E. Kitzinger: The Cross, the Gospels, and the Work of Art in the Carolingian Age, Cambridge: Cambridge University Press 2019, XX + 303 S., 149 Farbabb., ISBN 978-1-108-42881-1, GBP 57,99
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