sehepunkte 20 (2020), Nr. 12

Claude Calame: Les Chœurs de jeunes filles en Grèce ancienne

Einleitend muss kaum vorausgeschickt werden, dass es sich bei dieser Untersuchung des Schweizer Gräzisten und Kulturanthropologen Claude Calame (*1943) um die Neuauflage eines 'Klassikers' im Bereich der Erforschung ritueller wie sozialer Dimensionen der Lyrik im archaischen Griechenland handelt. Konkret umfasst der monumentale Band (667 Seiten) die beiden Einzelbände der ursprünglich 1975 fertiggestellten und 1977 im Verlag Ateneo & Bizzarri publizierten Dissertation Les chœurs de jeunes filles en Grèce archaïque (Bd. 1: Morphologie, fonction religieuse et sociale, 506 Seiten; Bd. 2: Alcman, 212 Seiten). Bot Band 1 eine Einführung in Zusammensetzung und die soziale und rituelle Rolle archaischer Mädchenchöre, wandte Band 2 diese Grundlagen auf Parthenien-Fragmente des Chorlyrikers Alkman an. Die Gedichte des im kulturell aufblühenden Sparta des späten 7. Jh.s v.Chr. wirkenden Alkman, der als Erfinder melischer Liebes-Lyrik galt und dessen alexandrinische Werkausgabe sechs Bücher umfasste, sind nur noch in Fragmenten greifbar: Zu ihnen legte Calame 1983 Kommentierung und Übersetzung vor (Rom, Ateneo & Bizzarri, 638 Seiten). Die nun publizierte zweite französische Auflage der Dissertation bietet nach mehr als 40 Jahren eine Überarbeitung beider seinerzeit in der Forschung positiv aufgenommener Titel - als Zwischenschritt kann die englische Übersetzung des ersten Bandes (1997 als Choruses of Young Women in Ancient Greece, Rowman & Littlefield) gelten: Die revidierte englische Fassung (2001) macht Calame nun zur Grundlage seiner Neuauflage - deren erster Abschnitt somit eigentlich in dritter Auflage erscheint.

Calame lenkte damals - inspiriert von der strukturanthropologisch-sozialwissenschaftlich geprägten École de Paris und den kontext- und funktionsbasierten Arbeiten des Gruppo di ricerca sulla lirica greca d'Urbino um Bruno Gentili - die Perspektive auf die soziopolitische Relevanz der Chorlyrik, deren Liedern er zudem eine rituelle Funktion zuschrieb. Laut Calame wurde den im Chor-Kollektiv singenden und tanzenden παρθένοι performativ eine soziale Rolle zugewiesen und damit das kultische Ziel einer Initiation verfolgt. In der edukativ-initiatorischen Funktion solcher als Kultgemeinden verstandener Mädchenchöre (παρθένεια) spiegelt sich, so Calame, eine Dimension archaischer Stammesrituale.

Der aktuelle Band, der die frühere Zweiteilung kaum noch erahnen lässt, gliedert sich in eine Einleitung und vier Hauptkapitel: An das Vorwort der neuen (2019) sowie das der ersten Auflage (1975), die beide autobiographisch durchsetzt sind, folgt die Einleitung ("Introduction. Approches de la poésie rituelle grecque", 27-60). Hier spricht Calame Deutungsschwierigkeiten der Parthenien, die Quellenlage sowie seine Methodologie an, die sich auf soziologische, ritualvergleichende und semiotische Erkenntnisse stützt. Dies erlaubt Calame, neben literarischen Texten auch Ikonographie, Kultpraktiken und Mythen in seine Deutung einzubeziehen.

Das erste Kapitel ("Morphologie du chœur "lyrique"", 61-170) untersucht die formale Konfiguration archaischer Chöre, die meist aus jungen Frauen bestanden, und gliedert diese in Choreutinnen und sozial oft höherstehende Choreginnen. Ferner stellt Calame das breite Spektrum musisch-performativer Chor-Aktivitäten und die Vielzahl ritueller Aufführungs-Anlässe dar.

Kapitel II ("Le chœur, le rituel et les cultes", 171-353) untersucht die Rolle von Mädchenchören im Rahmen von Götterfesten innerhalb wie außerhalb Spartas, wobei die rituelle Hauptfunktion in der Initiation der παρθένοι ins Erwachsenenalter gesehen wird. Diese Grunderkenntnis des Buchs ist, wie bereits verschiedentlich bemerkt, der Entstehung in den 70er Jahren geschuldet, weshalb Kultpraktiken wie rites de passage großes Gewicht eingeräumt und nicht-initiatorische (und nicht-rituelle) Aufführungs-Kontexte von Mädchenchören eher unterbeleuchtet bleiben.

Kapitel III ("Les fonctions du groupe choral", 355-451) nimmt die Chöre als soziale Organisationsformen in den Blick und stellt Vergleiche institutionalisierter gleichgeschlechtlicher Gleichaltrigen-Gruppen an, wobei der Schwerpunkt auf Lesbos und Sparta liegt. Die sozialisierende Funktion dieser Gruppen bestand in der Vorbereitung der Heranwachsenden auf ihre spätere gesellschaftliche Rolle. Calame sieht in Alkmans Parthenien wie auch in Sapphos Lyrik Ausdrucksformen weiblicher Homophilie in ritueller Performanz gezeigt, wobei die paradigmatische hierarchische Beziehung zwischen Choreutinnen und Choregin Relevanz für die sich kultisch erneuernde Gemeinschaft entfaltete. Dieser Abschnitt, der mit der Neuausrichtung des Sapphischen 'Mädchenzirkels' auf dessen soziale Dimension als bahnbrechend galt, schließt mit interkulturellen Vergleichen initiatorischer Frauen-Riten, die bezüglich ihres kollektiven wie hierarchischen Charakters und der Rolle von Musik, Gesang und Tanz transhistorische Gemeinsamkeiten mit den archaischen Mädchenchören aufweisen.

Im letzten Kapitel IV ("Commentaire aux parthénées d'Alcman", 453-573), das als Band 2 der Dissertation erschienen (1977) und nicht in die englische Übersetzung integriert worden war, wird das Erarbeitete auf die zwei längsten Parthenien-Fragmente Alkmans, fr. 1 PMGF (Davies 1991) = 3 Calame und fr. 3 PMGF = 26 Calame, übertragen. Für das erste, vieldiskutierte Louvre-Partheneion (P.Louvre E 3320) zeigt Calame, dass die Choregin Hagesichora, deren sozialer Status dem einer ehefähigen Frau entspricht, in ihrer homoerotischen Beziehung mit der jungen Agido ein Vorbild für die anderen Mädchen darstellt. Rahmen dieses Initiationsrituals am Übergang zum Erwachsenenalter sei der spartanische Kult der Helena, die ein mythisches Modell für die Mädchen biete. Im Sinne ritueller Handlungen deutet Calame auch das lange, lückenhaft überlieferte Astymeloisa-Partheneion (P.Oxy 2387), worin das gleichnamige Mädchen als Choregin fungieren darf und ebenfalls homophile Beziehungen thematisiert werden. So zeigt Calame die soziopolitische Bedeutung von Alkmans Chorliedern im gesellschaftlichen Leben Spartas auf, die neben einer erzieherischen auch eine initiatorisch-rituelle Funktion aufwiesen.

Das Buch beschließen - nebst einem Schaubild zur Identität der Protagonistinnen des Louvre-Partheneions (576f.) und einem Anhang zu poetischem Genus und antiker Rezeption der Parthenien (579-604) - Bibliographie (605-626), Indices (629-661) und Inhaltsübersicht (663-667).

Es ist erfreulich, dass die bahnbrechende Dissertation nun kompakt in einem Band vorliegt. Zugleich sollte die Neuauflage dieses 40 Jahre alten 'Klassikers' dazu motivieren, die Fragmente Alkmans auch unter neuen literaturwissenschaftlichen Aspekten zu lesen, die nach dem "anthropological paradigm" nun deren lyrisch-poetische Ästhetik [1] oder den Parameter Gender bei der Formung von Sprecherinnen-Rollen [2] betreffen. Hier ist noch Neues zu erwarten.


Anmerkungen:

[1] Vgl. meine Rezension von: Felix Budelmann / Tom Phillips (eds.): Textual Events. Performance and the Lyric in Early Greece, Oxford: Oxford University Press 2018, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 7/8 [15.07.2019], URL: http://www.sehepunkte.de/2019/07/32047.html.

[2] Vgl. Lisa Cordes / Therese Fuhrer (eds.): The gender parameter in the shaping of first-person discourse in classical literature - shaping a (gendered) 'I' persona (Phil. Sup., vsl. 2021).

Rezension über:

Claude Calame: Les Chœurs de jeunes filles en Grèce ancienne. Morphologie, fonctions religieuses et sociales (Les parthénées d'Alcman), Paris: Les Belles Lettres 2019, 667 S., ISBN 978-2-251-45023-0, EUR 35,00

Rezension von:
Markus Hafner
Institut für Antike, Fachbereich Klassische Philologie, Karl-Franzens-Universität Graz
Empfohlene Zitierweise:
Markus Hafner: Rezension von: Claude Calame: Les Chœurs de jeunes filles en Grèce ancienne. Morphologie, fonctions religieuses et sociales (Les parthénées d'Alcman), Paris: Les Belles Lettres 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 12 [15.12.2020], URL: https://www.sehepunkte.de/2020/12/34174.html


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