Expliziter als die üblichen, mehr oder weniger evokativen mittelalterlichen Illustrationen auf den Buchdeckeln historischer Studien ist das Cover-Foto dieses Bandes tatsächlich ein aussagekräftiger bildlicher 'Peritext', der offenkundig darauf abzielt, etwas über das Anliegen der Studie zu vermitteln. An einer Fassade aus dem 18. Jahrhundert hängt eine postmoderne Kunstinstallation: ein 75-minütiger LED-Spruchbandfilm, in dem der Regisseur Romuald Karmakar 2017 "die Entstehung des Westens von den Anfängen in der Antike bis zum Fall von Konstantinopel" anhand zahlreicher textueller Mikrosequenzen darstellte. Eine davon, auf dem Cover abgebildet, lautet: "Kreuzzug: Krieg des Papstes". Dieser Spruch hängt, wie auch der nachfolgende - "Kein Kreuzzug ohne Papst" - von einer Meistererzählung ab, die nicht nur in der Geschichtskultur, sondern in der Geschichtswissenschaft selbst Gemeinsinn geworden ist: ein perfektes kulturelles Produkt bereit für die Dekonstruktion.
Darauf abzielend bietet die Studie eine reconsideration des Kreuzzuges: Dessen moderne Definition als ein von päpstlicher Initiative angestoßenes bzw. autorisiertes Unternehmen wird von Weitzel hinterfragt und relativiert. Die Aufgabe ist anspruchsvoll und epistemologisch lehrreich zugleich, weil diese Definition nicht nur einer modernen Meistererzählung entspricht, sondern auf einem auch im Mittelalter verbreiteten Deutungsmuster beruht. Der Autor zeigt somit, dass wir eigentlich immer wieder kritisch mit modernen 'Konstrukten' aus vormodernen 'Konstrukten' umgehen müssen.
Um die Idee des Kreuzzuges als Papstkrieg zu dekonstruieren, analysiert Weitzel bekannte Quellen aus der Zeitspanne zwischen dem ersten und dem zweiten Kreuzzug (1095-1149). Er konzentriert sich auf vor allem durch Geschichtsschreibung und Briefe vermittelte Vorstellungen, die es Weitzel ermöglichen, einige der dargestellten Figuren und Ereignisse mit dem Weberschen Charisma-Begriff zu beschreiben.
Die Arbeit mit der Charisma-Theorie von Max Weber, die Weitzel in einer kommunikativen Perspektive und mit Bourdieus Begriff des religiösen Feldes aktualisiert, ist der erste Schritt (27-43), um die Quellen durch eine neue "Heuristik" zu lesen, die sich auf die Wahrnehmungs- und Vorstellungsgeschichte beruft.
Anschließend konzentriert sich Weitzel auf die Idee des Kreuzzuges als Gotteskrieg. Die Analyse dieser Vorstellung ist zentral für die gesamte Untersuchung, weil dieser Leitgedanke die grundlegende "Bedingungsmöglichkeit" für das besonders im Kreuzzug anerkannte charismatische Wirken darstellt (45-79).
Anhand dieser theoretischen und begriffsgeschichtlichen Voraussetzungen überprüft Weitzel zunächst die Bedeutung Urbans II. als Haupturheber des ersten Kreuzzuges (79-97). Zwar gesteht er dem Papst diese Rolle zu, doch schränkt Weitzel dann dessen Autorität ein, indem er auf die Obödienzgrenzen verweist, die infolge des wibertinischen Schismas entstanden sind: "Es waren jene Räume, die außerhalb der Obödienz Urbans II. lagen, jedoch von der Dynamik der Kreuzzugsbewegung ergriffen wurden, die einen Handlungsspielraum für andere Akteure eröffnete" (97). Auch wenn die zu dieser Schlussfolgerung führende Argumentation nicht restlos stringent ist, bleibt dieser letzte Schritt wichtig, um den Hauptteil der Arbeit einzuleiten: Die neue Einschätzung der Rolle von Peter dem Eremiten (97-167). Die Studie schließt sich so einer jüngeren Tendenz der Kreuzzugsforschung an, die gleichzeitig Geschichtsdarstellungen aus der Spätromantik erneuert. [1] Peter, der "Wanderprediger" aus Amiens, wird in einigen Quellen als Initiator des ersten Kreuzzugs dargestellt und gilt als charismatischer Führer - auch bei seinen Kritikern. Sein Charisma, das in der damaligen Wahrnehmung durch prophetische Offenbarungen und Wundertaten die Grenzen zwischen Immanenz und Transzendenz aufhob, stand in struktureller Konkurrenz zur Autorität des Papstes und der anderen Priester, die eher über Amtscharisma verfügten. Weitzel setzt sich anschließend mit der Frage nach Peters Rolle im sogenannten Volkskreuzzug auseinander: Abwertende Beschreibungen Peters in damaligen und modernen Darstellungen, insbesondere bezüglich der vernichtenden Niederlage von Civitot, relativiert Weitzel durch eine neue Deutung der Quellen. Dazu trägt auch eine Untersuchung der Rezeption Peters in den späteren Quellen bis zum Anfang des 13. Jahrhunderts bei. Eine Kontrolle dieser Ergebnisse bietet das Fallbeispiel der kontroversen Propheten-Figur Petrus Bartholomäus (168-198), dessen mit dem Auffinden der heiligen Lanze verbundener Aufstieg sowie sein rasches Scheitern aufgrund einer missglückten Feuerprobe "Möglichkeitsbedingungen", Chancen und Grenzen charismatischer Akteure während des ersten Kreuzzuges aufzeigen.
Im zweiten, kürzeren Teil der Studie sucht Weitzel anhand des zweiten Kreuzzuges nach weiteren Belegen für das alternative charismatische Deutungsmuster. Zunächst stellt er nochmals die päpstliche Initiative infrage: Ausgehend von der Debatte über die Datierung der Kreuzzugsbulle Quantum predecessores Papst Eugens II. (201-213) beschreibt Weitzel ein Spannungsfeld der Autoritäten, das sich insbesondere im Hoftag des Königs Ludwig VII. in Bourges zeige (213-220). Neben der sich auf Urban II. zurückberufenden päpstlichen Urheberschaft und der königlichen Initiative, die auf einer traditionellen Zugehörigkeit des Gotteskrieges zur Herrschersakralität beruhe (223-230), tauche die charismatische Autorität des Abtes Bernhard von Clairvaux als "göttliches Orakel" auf (230-239). Die Relevanz der charismatischen Rolle Bernhards, die der Abt selbst nicht als gegensätzlich zur Amtskirche sah, werde durch seine Konkurrenz mit dem nicht anerkannten Prediger Radulf (239-245) sowie die nach dem katastrophalen Misserfolg des Kreuzzugs an Bernhard selbst geübte Kritik und die darauf reagierende apologetische Verteidigung bestätigt (260-279). Das charismatische Deutungsmuster des Kreuzzuges befinde sich überdies in einem rechtlich freien Raum, weil das sich damals im Werk Gratians und in der darauffolgenden Dekretistik herauskristallisierende Kirchenrecht keine normativen Vorstellungen des Kreuzzuges und der dafür zuständigen Autorität umfasste (245-260).
Die Studie ermahnt uns eindrücklich, dass man bei zukünftigen Betrachtungen des 'Kreuzzuges' die charismatische Komponente nicht außer Acht lassen sollte. Zu vermeiden ist selbstverständlich eine neue einseitige Hypostasierung dieses komplexen Phänomens als "charismatische Bewegung". Gegen diese Gefahr wirken bereits einige wenige und leider kurze in der Studie angelegte kontextualisierende Überlegungen und Exkurse (zum Beispiel über Robert von Arbrissel), die eine charismatische Komponente in die komplexe Dynamik der Institutionen der Christenheit zwischen dem 11. und 12. Jahrhundert einbetten. Auch wenn dieses allgemeine Ergebnis der Studie klar und positiv ist, sind nicht wenige argumentative Schritte im Umgang mit den Quellen zu überprüfen: Der Untersuchung der sozialen Vorstellungen und der individuellen Wahrnehmungen des Kreuzzuges durch das close reading einiger ausgewählter Stellen fehlt eine methodisch notwendige Darstellungsanalyse. Auch wenn Weitzel auf die Darstellungsabsicht der Quellen achtet, berücksichtigt er nicht die gesamte Semantik, die Strukturen und die Funktionen einiger analysierter Texte und geht so nicht selten das Risiko der Überinterpretation ein.
Anmerkung:
[1] Vgl. vor allem die umfangreiche Monografie: Jean Flori: Pierre l'Ermite et la prèmiere croisade, Paris 1999.
Tim Weitzel: Kreuzzug als charismatische Bewegung. Päpste, Priester und Propheten (1095-1149) (= Mittelalter-Forschungen; Bd. 62), Ostfildern: Thorbecke 2019, 328 S., ISBN 978-3-7995-4383-5, EUR 45,00
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