sehepunkte 21 (2021), Nr. 5

Michael P. Hanaghan: Reading Sidonius' Epistles

Über lange Zeit geringgeachtet, erfährt das Œuvre des Sidonius Apollinaris jüngst eine sukzessive Neubewertung, die zu seiner verstärkten Beachtung in der Forschung geführt hat. Dies gilt insbesondere für seine umfangreiche, in weiten Teilen von ihm selbst zusammengestellte Briefsammlung, die inzwischen als prominentes Beispiel für die Persistenz epistolarer Kommunikation und Gemeinschaftsbildung in der ausgehenden Spätantike sowie als eine der wichtigsten Quellen für den Wandel in Gallien in der zweiten Hälfte des 5. Jh.s und seine Verarbeitung durch die eingesessenen Eliten gilt. Dabei hat sich die Publikationstätigkeit zu Sidonius Apollinaris gerade in letzter Zeit erheblich intensiviert. Vorherrschend sind hier Sammelbände [1], während monographische Gesamtwürdigungen von Autor und Werk wie Jill Harries' grundlegende Studie von 1994 die Ausnahme bleiben. [2] Schon deswegen ist die hier anzuzeigende Monographie von Michael P. Hanaghan einer Würdigung wert. Aber mehr noch: Durch ihren dezidiert literaturwissenschaftlichen Ansatz leistet sie eine willkommene Ergänzung zu Harries' ereignis- und kulturgeschichtlicher Perspektive, mit der sie auf die anschließende Forschung bis heute prägend gewirkt hat.

Das erste Kapitel der Studie stellt auf der Basis einer soliden Auswertung der bisherigen Forschung Sidonius' Biographie vor, ordnet diese in den kultur- und ereignisgeschichtlichen Rahmen seiner Epoche ein und gibt schließlich einen einführenden Überblick über Sidonius' Briefwerk und die wesentlichen Meilensteine seiner wissenschaftlichen Erschließung ("Sidonius' World", 1-17). Das folgende Kapitel ("Self and Status: Reading 'Sidonius' in the Epistles", 18-57) bewegt sich zunächst noch weitgehend in den Bahnen der traditionellen Forschung, wenn es sich mit der Selbstdarstellung des Sidonius Apollinaris und der Inszenierung seines Status als Aristokrat, Verwaltungsbeamter und Bischof in seinem Briefwerk beschäftigt. Freilich kommt bereits hier der innovative Ansatz der Arbeit zu tragen, wenn Hanaghan Sidonius' Brief-Ich konsequenter als in bisherigen Arbeiten als Konstruktion interpretiert, auf die hin die Gestaltung aller wesentlichen Briefelemente von der spezifischen Darbietung der Inhalte, über ihre argumentative und narrative Organisation bis hin zur Modellierung der Adressaten und aller weiteren thematisierten Personen ausgerichtet ist.

Der Befund, dass Sidonius' Ich-Konstruktionen über die Komposition der Sammlung eine chronologische Komponente ausbilden, leitet zum nächsten Kapitel über, das die erzähltheoretischen Analysekategorien von "Erzählzeit" und "Lesezeit" höchst erhellend auf Sidonius' Briefe appliziert und damit ein Beispiel liefert, welchen interpretatorischen Nutzen die Anwendung narratologischer Kategorien auf Briefe und epistolographische Korpora entfalten kann ("Reading Time: Erzählzeit und Lesezeit", 58-90). Diesen weist Hanaghan auf drei Ebenen nach: Einmal untersucht er das Verhältnis zwischen den beiden Kategorien an einigen exemplarischen Schreiben und zeigt auf, wie gekonnt Sidonius dieses zur Fokalisierung auf bestimmte Aspekte seiner Briefberichte austariert und damit zur Leserlenkung einsetzt. Des Weiteren wendet er sich den briefübergreifenden Narrativen zu und arbeitet die narratologischen Mechanismen ihrer Kohäsion heraus. Und schließlich weitet er seinen Fokus auf das brieftypische Spezifikum der zeitversetzten Rezeption aus und weist nach, wie geschickt Sidonius auch diesen Aspekt für seine intentionalen Strategien verwendet.

Das anschließende Kapitel setzt seinen Fokus auf die Adressaten der Briefe und generell auf die in diesen thematisierten Personen ("Reading Epistolary Characters", 91-138). Dabei weist Hanaghan nach, dass beide Gruppen umfänglicher Gestaltung unterliegen und somit als Konstruktionen anzusprechen sind, die sich aus den Aussageinteressen des Briefautors ergeben. Diese kann er einmal mehr vor allem in einer raffinierten Selbstdarstellung verorten. Zum anderen legt Hanaghan dar, dass Sidonius die Protagonisten seiner Briefe immer wieder zu exemplarischen Charakteren ausbaut, auf deren Grundlage er Verhaltensweisen und Umgangsformen grundsätzlich reflektiert und in ihrem Verhältnis zu den sozialen Codes seiner Schicht diskutiert.

Das nächste Kapitel schließt daran an, indem es dialogischen Strukturen in den Briefen nachgeht ("Narrating Dialogue", 139-169). Diese entfalten sich zuallererst zwischen dem Ich des Briefstellers und seinen Adressaten, aber auch als Gegenstand des Briefnarrativs, etwa in der Konstruktion fiktiver Gesprächspartner oder der metakommunikativen Thematisierung des epistolaren Austauschs selbst. Das letzte Kapitel kehrt in die klassischen Bahnen der Epistolographie-Forschung zurück, indem es das Entstehen der Sammlung und die ihr zugrundeliegenden Kompositionskriterien in den Blick nimmt ("Arrangement", 170-184). Jedoch verleiht Hanaghan auch dieser Fragestellung neue Impulse, indem er aus seinen bisherigen Ausführungen ergänzende Indizien für eine je spezifische planvolle Zusammenstellung der Briefbücher beibringen kann.

Mit einer konzisen Zusammenfassung ("Epilogue", 185-188), einigen hilfreichen Appendices mit Überblicken über zentrale historische Ereignisse während der Abfassungszeit der Briefe (189-191) und über deren Adressaten und Themen (192-199), einer umfassenden Bibliographie (201-229) und den üblichen Indices (231-237) endet eine Untersuchung, die einen wichtigen Beitrag für das Verständnis eines der zentralen Briefœuvres der lateinischen Spätantike leistet. Indem sie konsequent Sidonius' strukturelle, argumentative und kompositorische Gestaltungsprinzipien herausarbeitet, erweist sie nicht nur mustergültig den Wert literaturwissenschaftlicher Zugänge, sondern auch narratologischer Ansätze zur Erschließung antiker und nicht zuletzt spätantiker Epistolographie. Durch die Abfolge von theoretischer Grundlegung, exemplarischer Briefanalyse und abschließender verallgemeinernder Perspektive liefert die Arbeit gleichermaßen eine theoretisch fundierte Korpusanalyse wie auch durchgehend konsistente Detailinterpretationen einschlägiger Briefe oder Briefgruppen. Willkommener Nebeneffekt des narratologischen Fokus auf Sidonius' Selbstdarstellung ist die präzisere Bestimmung der Modellfunktion des plinianischen Briefœuvres, die der Autor in der ersten Epistel seiner Sammlung selbst markiert hat und die in der Forschung eine wichtige Rolle bei deren Situierung in der antiken Brieftradition spielt. Hanaghans Ausführungen zeigen an, dass sich Plinius' Vorbild nicht nur in kompositorischen Erwägungen, sondern insbesondere auch in vergleichbar komplexen textuellen und kompositorischen Strategien der indirekten Selbstdarstellung findet. Insgesamt verdient es Hanaghans Studie, zu einem Standardwerk der Sidonius-Forschung zu werden, das nicht zuletzt der weiteren Erschließung anderer, nicht nur spätantiker Briefœuvres wichtige Impulse verleihen kann.


Anmerkungen:

[1] Joop A. van Waarden / Galvin Kelly (eds.): New Approaches to Sidonius Apollinaris, Löwen 2013, Rémy Poignault / Annick Stoehr-Monjou (éds.): Présence de Sidoine Apollinaire, Clermont-Ferrand 2014; s. jetzt auch Joop A. van Waarden / Galvin Kelly (eds.): The Edinburgh Companion to Sidonius Apollinaris, Edinburgh 2020.

[2] Jill Harries: Sidonius Apollinaris and the Fall of Rome, AD 407-485, Oxford 1994.

Rezension über:

Michael P. Hanaghan: Reading Sidonius' Epistles, Cambridge: Cambridge University Press 2019, X + 237 S., 2 Kt., 2 Tbl., ISBN 978-1-108-42921-4, GBP 75,00

Rezension von:
Gernot Michael Müller
Universität Bonn
Empfohlene Zitierweise:
Gernot Michael Müller: Rezension von: Michael P. Hanaghan: Reading Sidonius' Epistles, Cambridge: Cambridge University Press 2019, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 5 [15.05.2021], URL: https://www.sehepunkte.de/2021/05/33174.html


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