sehepunkte 21 (2021), Nr. 5

Nicolas Meylan / Lukas Rösli (eds.): Old Norse Myths as Political Ideologies

Der sehr ansprechend und wertig gestaltete Band zu einem aktuellen Thema weckt große Erwartungen. Der prägnante Titel lässt eine dezidierte inhaltliche Fokussierung erhoffen. Und in der Tat vermittelt der erste Blick auf die Themen der elf Beiträge in drei Sektionen eine gewisse inhaltliche Konsistenz.

Die inhaltlich ambitionierte Einleitung kann als eigener Beitrag verstanden werden. Darin identifizieren die Herausgeber eine signifikante Lücke in der Beschäftigung mit der politischen Dimension einer Adaption der (alt-)nordischen Mythologie. Trotz der für Einleitungen notwendigen Kürze gehen Meylan/Rösli kenntnisreich auf die völkischen Hintergründe nationalsozialistischer und rechtsextremer Germanenrezeption ein. Die pointierten Ausführungen bieten dem Leser einen guten Problemaufriss, so dass man sich aus den folgenden Beiträgen tiefere und zusammenhängende Einblicke erhofft. Die Erwartung einer geschlossenen und thematisch stimmigen Auswahl und Darstellung wird jedoch nur teilweise erfüllt. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass der Konnex mancher Beiträge zum Thema des Buches nicht oder nur ansatzweise gegeben ist.

Die erste Sektion Medieval Uses besteht nur aus einem einzigen Beitrag (Richard Cole: Æsirism: The Impossibility of Ideological Neutrality in Snorra Edda). Dieser befasst sich mit der Edda von Snorri Sturluson und den in ihr enthaltenen weltanschaulichen Tendenzen, behandelt also mehr oder minder ein philologisch-geistesgeschichtliches Thema. Der Zusammenhang zum Rahmenthema des Buches wird dabei nur in den einleitenden Ausführungen vage hergestellt. Dass Mythologie immer auch ideologische Aspekte besitzt, wie der Autor detailliert nachweist, erscheint dem Rezensenten eine Selbstverständlichkeit. Inhaltlich passt der Beitrag jedenfalls nur bei einer sehr großzügigen Auslegung in den vorgegebenen Rahmen des Bandes, dessen Untertitel gerade auf die Adaption mittelalterlicher Narrative abzielt und damit eben nicht auf die zeitgenössische Rezeption im Mittelalter.

Die zweite Sektion Scholarly Uses vereint immerhin vier Beiträge. Deren erster (Margot Damiens: 'Reconciling' Ancient Paganism and Modern Protestantism) widmet sich den Ursprüngen der nationalromantischen und der völkischen Bewegung und der damit verbundenen Perspektive auf die nordischen Mythen. Dabei erarbeitet die Autorin das romantische Interesse an der Mythologie und stellt die starke ideologische Motivierung dieser Adaption heraus. Dies ist allerdings per se nur wenig verwunderlich, als doch jede geisteswissenschaftliche Forschung nicht frei von ideologischem Hintergrund oder sogar ideologisch geleitetem Erkenntnisinteresse ist. Den Kern des Beitrages bildet - aufschlussreich und detailliert herausgearbeitet - das Postulat einer Analogie zwischen nordisch-germanischer Mythologie und (protestantischem) Christentum, wie dies bei Jacob Grimm in dessen Deutscher Mythologie mehr oder minder explizit herausgestellt wird. Nicht zuletzt zeigt die Studie auch, wie einflussreich die betreffende Rezeption der Mythologie bis heute ist.

Der nachfolgende Beitrag von Lea Baumgarten widmet sich den Schriften Friedrich von der Leyens zu Bildung und Mythologie. Die Detailstudie zeigt exemplarisch, wie wenig eine Schwarz-Weiß-Unterscheidung von Nationalsozialist versus Regimegegner im Bereich der wissenschaftlichen Positionierung zu völkischen Ideen und Konzepten zureicht. Dies gilt auch im Hinblick auf die Rezeption nordisch-germanischer Mythologie. Eine differenzierte Betrachtungsweise erweist sich also als unabdingbar. Kritisch zu sehen ist, dass der Beitrag sich in weiten Teilen als länglich deskriptiv erweist und die Ausführungen zu von der Leyens Position zu den Mythen lediglich ein Detail in einer wissenschaftsbiografischen Darstellung bilden.

Ähnlich gestaltet sich der Beitrag von Courtney Marie Burell (Otto Höfler's Männerbünde und Völkisch Ideology). Im Hinblick auf Höfler's Männerbünde-Theorie werden allerdings klare Schnittmengen mit der Betrachtung der Mythologie-Rezeption deutlich. Dabei wird insbesondere das Verhältnis von Höfler zum Nationalsozialismus und zur völkischen Bewegung kritisch betrachtet.

Margaret Clunies Ross' Aufsatz (Archaeology and Textuality in the Study of Pre-Christian Scandianavian Religion) erweist sich als wissenschaftsreflexiv und instruktiv, hat aber mit Mythen als politischer Ideologie wenig zu tun, sondern befasst sich mit wissenschaftlichen Fehldeutungen in der Quelleninterpretation.

Die dritte Sektion Old Norse Myths in Popular Culture wird eröffnet von einem Beitrag von Horst Junginger (The Revival of Archaic Traditions in Modern Times), der deutlich stärker die politische Dimension der Rahmenthematik akzentuiert, auch wenn darin ein weites Spektrum von Themen behandelt wird, wie beispielsweise die historische Vielschichtigkeit der völkischen Ideen, die keineswegs nur reaktionäre, sondern zumindest anfangs durchaus auch progressive Züge trugen. Verbindungen mit esoterischen Ideen wie den okkultistisch-spiritistischen Ausdeutungen der Runen bei Protagonisten im Umfeld des Nationalsozialismus (Karl Maria Wiligut, Herman Wirth usf.) werden ebenfalls erörtert. Insgesamt spannt der Autor den Bogen bis ins späte 20. Jahrhundert, so dass ein Gegenwartsbezug deutlich wird.

Frederik Gregorius (Feminist Vikings, Ecological Gods, and National Warriors) beschreibt die vielfältigen modernen Adaptionen (man sollte besser von Um- und Missdeutungen sprechen), welche die nordisch-germanischen Mythen im modernen Schweden erfahren. Einen der in der Tat auch politisch-ideologisch relevanten Aspekte stellt das Neuheidentum dar. Darüber hinaus thematisiert Gregorius die literarischen (speziell fantastischen) Bearbeitungen der klassischen Stoffe nach dem 2. Weltkrieg und in jüngerer Vergangenheit.

Einen originellen Zugang präsentiert Laurent Di Filippo, der Computerspiele auf die Verarbeitung nordischer Stereotype hin untersucht. Dabei stellt er verschiedene Plots, Figuren und Handlungen vor, die in den von ihm betrachteten Spielen implementiert sind. Angesichts ihrer Verbreitung ist eine prägende Rolle von Computerspielen, auch hinsichtlich politischer Überzeugungen, nicht nur denkbar, sondern plausibel. Der Verfasser legt dar, wie auf diese Weise politische Konzepte und Ideen transportiert werden können. Bei allem weist diese aufschlussreiche Studie jedoch kaum einen Bezug zu den nordischen Mythen auf.

Barbora Davidek analysiert in ihrem Text (Reception of the Past, Projection of the Present), wie ausgewählte TV-Produktionen zum Thema Wikinger der Identitätsstiftung und der Vermittlung von Gender-Rollen dienen. Dazu vergleicht sie eine irisch-kanadische Serienproduktion mit einem russischen Monumentalfilm, die beide weniger dokumentarischen als fiktiven Charakter besitzen. Zu den zahlreichen Erkenntnissen, die sich hierbei ergeben, zählt beispielsweise, wie die Thematik für die russische Politik instrumentalisiert wird. Auch dieser Beitrag hat - ohne dass damit die inhaltliche Qualität infrage gestellt sei - mit Mythologie nur bedingt etwas zu tun, vielmehr geht es um Erbeaneignung und Geschichtsausdeutung.

Verena Höfig zeigt hernach in einem Aufsatz, welche Rolle die Berufung auf altnordische Kultur (inklusive der Mythen) für heutige Rechtsextremisten in den USA spielt. Neuheidnische Gruppen in den USA sind zwar zahlenmäßig klein, jedoch radikal und stark rassistisch orientiert. Zur Verdeutlichung dessen werden von Höfig drei Gruppen von US-Neuheiden exemplarisch betrachtet.

Den Abschluss des Bandes bildet die Studie von Merrill Kaplan (The State of Vinland), in der gezeigt wird, wie Rechtsextremisten in den USA und in Kanada auf vermeintliche Vinland-Traditionen zurückgreifen. Bezüge zu den Mythen sind dabei allerdings kaum gegeben.

Dass der Band keinen eigenen Beitrag zur Adaption der nordisch-germanischen Mythologie im rezenten mitteleuropäischen Rechtsextremismus enthält, ist aus Sicht des Rezensenten höchst bedauerlich. Zwar wird ein Blick insbesondere auf den amerikanischen Rechtsextremismus gerichtet, doch gerade im deutschsprachigen Raum sind die Zugriffe auf die Mythologie nach Kenntnis des Rezensenten deutlich stärker ausgeprägt, als dies in Nordamerika der Fall ist.

Insgesamt ist die Zusammenstellung der Beiträge nur von sehr partikulärem Erkenntnisgewinn im Hinblick auf das Rahmenthema, dem in engerem Sinne nur eine Minderheit der Aufsätze zugeordnet werden kann. In seiner Inhomogenität und teilweisen thematischen Zufälligkeit unterscheidet sich dieser Band - anders als zunächst vermutet - doch nur wenig von manch anderem Sammelband. Für die Aufstellung in Bibliotheken ist er damit sicher von Relevanz, darüber hinaus aber wohl weniger.

Rezension über:

Nicolas Meylan / Lukas Rösli (eds.): Old Norse Myths as Political Ideologies. Critical Studies in the Appropriation of Medieval Narratives (= Acta Scandinavica; Vol. 9), Turnhout: Brepols 2020, 260 S., 1 Tbl., ISBN 978-2-503-58821-6, EUR 75,00

Rezension von:
Georg Schuppener
Institut für Germanistik, Universität der Hl. Cyrill und Method, Trnava
Empfohlene Zitierweise:
Georg Schuppener: Rezension von: Nicolas Meylan / Lukas Rösli (eds.): Old Norse Myths as Political Ideologies. Critical Studies in the Appropriation of Medieval Narratives, Turnhout: Brepols 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 5 [15.05.2021], URL: https://www.sehepunkte.de/2021/05/35213.html


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