Diese Biographie widmet sich einem kommunistischen Historiker, dessen Leben vom Stalin-Terror geprägt wurde. Sein Verfasser, Jahrgang 1941, unterrichtete Neuere Geschichte an der Universität Innsbruck, wo er auch bis 2002 Direktor des Universitätsarchivs war. Das Buch steht in einer Reihe von Biographien Oberkoflers zu Persönlichkeiten des österreichischen Wissenschaftslebens wie auch des Kommunismus, darunter solchen, die ins Exil gingen bzw. (wie Georg Knepler und Leo Stern) schließlich in der DDR wirkten. Neben Reisbergs Publikationen zieht der Autor österreichische, aber keine russischen Archivquellen heran.
Der im galizischen Boryslaw geborene Arnold Reisberg (1904-1980) entstammte einer Familie des unteren jüdischen Mittelstands, die im Ersten Weltkrieg vor dem antisemitischen Terror der russischen Truppen, die nach Ostgalizien vorrückten, nach Wien floh. Dort studierte er ab 1922 Geschichte und Philosophie. 1927 schloss er das Studium mit einer Dissertation unter dem Titel "Der wirtschaftliche Anschluss Österreichs an Deutschland in den Jahren 1840-1848" bei Alfons Dopsch und Heinrich von Srbik ab.
Reisberg sah die Oktoberrevolution von 1917 als den "großen Bezugspunkt seines Lebens" (33); so trat er 1923 dem Kommunistischen Jugendverband, 1924 der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) bei. Bis 1932 leitete er die Propagandaabteilung der Partei und die Marxistische Arbeiterschule. Danach wurde er verantwortlicher Redakteur des theoretischen Parteiorgans Der Kommunist. Nach den Februarkämpfen 1934 als polnischer Staatsbürger aus Österreich ausgewiesen, ging er zunächst in die Tschechoslowakei. Ende 1934 entsandte ihn die KPÖ nach Moskau. Dort arbeitete er unter dem Namen Bruno Baum als Dozent an der Internationalen Lenin-Schule und leitete deren österreichischen Sektor. Vertretungsweise lehrte er auch an der Kommunistischen Universität der nationalen Minderheiten des Westens.
Anfang 1937 geriet er in das Räderwerk des Stalin-Terrors. Reisberg soll die Frage gestellt und bejaht haben, ob es für Marxisten zulässig sei, nationale Zwietracht auszunutzen oder zu schüren. In seiner Verteidigungsrede erklärte der in die Enge getriebene Reisberg, er glaube, dass "man den Hass des ganzen Volkes, aller Nationalitäten der Sowjetunion gegen den hauptsächlichen Kriegstreiber (gegen den deutschen und japanischen Faschismus) entfachen" müsse (81). Das Parteikomitee der Lenin-Schule bezeichnete dies als Verleumdung der Sowjetunion sowie des deutschen Volkes. Dies bedeute das Einschmuggeln von faschistischer Ideologie, da Reisberg unterschiedslos alle Deutschen, auch die deutschen Werktätigen, zu Feinden der Sowjetunion erkläre. Dem Konstrukt einer angeblich bis 1924 zurückreichenden Fraktionstätigkeit in der KPÖ folgend, wurde Reisberg am 11. März von der Lenin-Schule entlassen. Verschärfend kam hinzu, dass er Komintern-Protokolle, in denen die Reden von sogenannten Volksfeinden wie Trotzki und Sinowjew abgedruckt waren, nicht aus der Bibliothek entfernen lassen wollte (83). Hier hätte Oberkofler stärker nachbohren müssen, vor allem mit Verweis auf Julia Köstenbergers Buch zum Thema [1], auf das der Text nirgendwo ersichtlich Bezug nimmt.
Am 22. April 1937 vom NKWD verhaftet, durchlitt Reisberg die Moskauer Gefängnisse Butyrka und Lubjanka und wurde schließlich im Juli zu fünfjähriger Lagerhaft in Kolyma verurteilt. Reisbergs Frau Eleonore musste mit ihren beiden Kindern nach Jegoijewsk ins Gebiet Kaluga und später ins Gebiet Wladimir, einhundert Kilometer von Moskau entfernt, ziehen, wo ihr eine Arbeit als Näherin zugewiesen wurde. Ihr älterer Sohn überlebte die Zeit der Verfolgung nicht. Reisberg selbst hätte 1942 entlassen werden sollen, doch er wurde - entgegen dem Gerichtsurteil - noch bis zum Oktober 1946 im Lager festgehalten. Es dauerte ein weiteres Jahr, bis er auf einem Dampfer einen Platz erhielt, der ihn nach Wladiwostok zurückbrachte - demselben Dampfer, auf dem er zehn Jahre zuvor deportiert worden war. Im April 1949 wurde er ein zweites Mal verhaftet und zu lebenslänglicher Verbannung nach Tassejewo in Ostsibirien verurteilt, wo er als Waldarbeiter, Teerbrenner und Transportarbeiter in einer Versorgungszentrale arbeitete. Im Juni 1954 schließlich kam Reisberg frei und wurde offiziell rehabilitiert. Er unterrichtete bis zum Februar 1959 im Gebiet Kaluga als Deutschlehrer an einer Allgemeinbildenden Schule. Bereits 1954 hatte ihn das Zentralkomitee der KPÖ für die Parteiarbeit nach Österreich angefordert, doch erhielt er als ausländischer Staatsbürger kein Einreisevisum. Schließlich ermöglichte ihm die Kaderabteilung der SED die Einreise in die DDR.
Reisberg wollte und konnte sich endlich - und zwar als Mitarbeiter am Institut für Marxismus-Leninismus (IML) - der wissenschaftlichen Arbeit widmen. Er, der mehrere Sprachen beherrschte, widmete sich vor allem drei Themenbereichen: der Geschichte der internationalen sowie der österreichischen Arbeiterbewegung und der Biographie Lenins. 1964 habilitierte er sich mit einer Untersuchung zur Komintern und KPD, die 1971 unter dem Titel "An den Quellen der Einheitsfrontpolitik" in zwei Bänden erschien [2]. Ein anderes zweibändiges Werk war 1977 die Quellensammlung "Lenin - Dokumente seines Lebens" [3]. Im Unterschied zu manch anderen IML-Historikern nannte Reisberg die Opfer Stalins, so Sinowjew, Bucharin, Radek und auch Trotzki, ohne gehässigen Kommentar. Doch reagierte er scharf abwehrend auf kritische Fragen, die sein eigenes Schicksal betrafen, so auf einer Historiker-Tagung zur Geschichte der Arbeiterbewegung 1974 in Linz. Oberkofler verteidigt diese Haltung (60 f.). In dem Zusammenhang lobt er Reisbergs Verriss einer Arbeit Fritz Kellers zur antistalinistischen kommunistischen Opposition in Österreich, die auch Reisbergs Schicksal erwähnte. Reisberg behauptete, die Existenz der "winzigen Splittergruppen" habe "sich in Schädlingsarbeit an der revolutionären Bewegung" erschöpft; sie würden "den Typ des kleinbürgerlichen Rebellen aus Kreisen der Intellektuellen, Studenten, Bohemiens und sozial deklassierten lumpenproletarischen Elemente" vertreten [4]. Der Rezensent widerspricht ausdrücklich Oberkoflers Verdikt, Kellers Arbeit sei "ein antikommunistisches Aneinanderreihen von papiernen Kleintexten!" (171). Problematisch erscheint ihm auch das 'Nachtreten' gegen den KPÖ-Historiker Herbert Steiner, den Oberkofler als politisch hin- und herschwankend beschreibt - eine Ansicht, die, zumal unter Marxisten, kaum Zustimmung finden dürfte (56 f.). Andere gelegentliche Angriffe, so auf Ernst Fischer, haben mit Reisbergs Biographie nichts zu tun (137, 146). Hier spielen wohl innere Konflikte der KPÖ, der auch Oberkofler angehörte, eine Rolle.
Die von Oberkofler verteidigte Attacke Reisbergs auf die kommunistischen Gegner Stalins war historisch völlig falsch und setzte sogar die persönliche Integrität von Menschen herab, die sich dem Stalinismus widersetzten. Reisbergs Leben zeigt einerseits eine bewundernswerte Selbstbehauptung, andererseits ein Dilemma, aus dem er sich in der DDR nicht befreien konnte - aber wer in seiner Lage hätte dies tun können? Bei aller historischen Kritik versagt sich der Rezensent jedes moralische Urteil.
Anmerkungen:
[1] Julia Köstenberger: Kaderschmiede des Stalinismus. Die Internationale Leninschule in Moskau (1926-1938) und die österreichischen Leninschüler und Leninschülerinnen, Wien 2016.
[2] Arnold Reisberg: An den Quellen der Einheitsfrontpolitik. Der Kampf der KPD um die Aktionseinheit in Deutschland 1921 bis 1922, 2 Bde., Berlin 1971.
[3] Lenin - Dokumente seines Lebens, 2 Bde., hg. von Arnold Reisberg, Leipzig 1977.
[4] Arnold Reisberg: Rezension zu: Fritz Keller: Gegen den Strom, Wien 1978, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 27 (1979), 1202.
Gerhard Oberkofler: Arnold Reisberg. Jüdischer Revolutionär aus dem Königreich Galizien. Eingeleitet von Hermann Klenner, Innsbruck: StudienVerlag 2020, 184 S., ISBN 978-3-7065-6090-0, EUR 19,90
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