Längst vergangen sind die Zeiten, als Gellius nur dafür geschätzt wurde, Zitate ansonsten verlorener Werke und manches Wissenswerte zur Geschichte der römischen Sprache und Kultur bewahrt zu haben. Nachdem L. Holford-Strevens die Attischen Nächte im Kontext der Gelehrtenkultur der antoninischen Epoche zu verstehen gelehrt hat [1], ist es Teilen der nachfolgenden Forschung ein wichtiges Anliegen, Gellius als Schriftsteller bzw. sein Werk als Literatur im vollen Sinne ernst zu nehmen. So betonte E. Gunderson - gleichermaßen durch die Form wie den Inhalt seines Buches -, wie stark ein Miszellanwerk den Leser zu aktivieren vermag. [2] W. Keulen sah in Gellius eine vielschichtige Autorenpersönlichkeit, die ihre satirischen Qualitäten gezielt einsetzt, um die eigene Autorität zu erhöhen und politischen Einfluss auszuüben. [3]
Beate Beer hat nun den Versuch unternommen, die Literarizität der Noctes Atticae durch die Anwendung prominenter literaturtheoretischer Konzepte noch stärker herauszustellen. Sie möchte dem auf die Spur kommen, was "Eleganz und Reiz" der Sammlung ausmacht (6), was den, der die Noctes Atticae zur Hand nimmt, als (an Literatur interessierten) "Leser" und nicht als (Sachwissen suchenden) "Benutzer" anzusprechen vermag. Bereits im einleitenden Kapitel wird deutlich, dass dabei - erwartungsgemäß - ein Schwerpunkt auf den Kapiteln (nach Beers Zählung 77 von 398, also 19 %) liegt, in denen bestimmte Inhalte in eine von einem Ich-Erzähler dominierte Rahmenhandlung eingebettet sind (11). In Kapitel 1.2 werden die Konzepte vorgestellt, mit deren Hilfe einzelne Aspekte des gellianischen Schreibstils untersucht werden sollen. Für die Kapitel mit einer Rahmenhandlung wird die Narratologie Genettes bemüht, für die nicht immer willkürliche Abfolge der einzelnen Kapitel der Begriff des Plots, für die Aktivierung des Lesers durch lineare Lektüre und offene Kapitelenden Wolfgang Iser, für die Überlegenheit der parole über die langue, die in der karikierenden Darstellung penibler, aber beschränkter grammatici zum Ausdruck komme, Saussure, für die über Figuren wie Taurus und Favorinus erreichte Mehrstimmigkeit, den Humor und das Management von erzählter und Erzählzeit Bachtin mit Polyphonie, Karneval und Chronotopos.
Das zweite Hauptkapitel, "Narrativität der Enzyklopädie" überschrieben, nimmt mit etwa 200 Seiten den größten Teil des Buches ein. Beers Studie ist ebenso lesenswert wie lehrreich, weil die Verfasserin ihren Autor sehr gut kennt und ihn klug zu analysieren vermag. Der Mehrwert aber, den die genannten Konzepte erbringen, ist gering. Es erfordert oft mehr Kunstfertigkeit und Raum, ihre Anwendbarkeit zu beweisen, als sie gewinnbringend anzuwenden. So muss man z.B. hinsichtlich eines (mehrere Kapitelgrenzen überschreitenden, erzählender Literatur vergleichbaren) Plots bei Gellius ehrlicherweise konstatieren: Es gibt keinen. Um dennoch einen solchen ausmachen zu können, postuliert Beer als Plot "denjenigen eines Tischgesprächs" (71). Natürlich gibt es zwischen den Themen der Noctes Atticae und ihrer oft assoziativen bis willkürlichen Reihung Parallelen zu sympotischer Literatur wie Plutarchs Quaestiones convivales, Athenaios' Deipnosophistae oder echten Tischgesprächen. Aber das macht die Noctes Atticae noch nicht zu einem literarischen Symposion.
In Kap. 2.2 wird an ausgewählten Kapiteln vorgeführt, wie Gellius seine Leser zum Mitdenken und Hinterfragen des Gebotenen anregt: dadurch, dass Kontroversen oder Zweifelsfälle nicht abschließend entschieden werden, durch die unvermittelte Abwertung des zuvor doch als wissenswert ausführlich Berichteten (Gell. 9,4,12), durch implizite Suchaufträge innerhalb des Werkes (18,4,11), eine plötzliche ironische Distanz zu den von der Autorenstimme selbst so geliebten Wortdoppelungen (ebenfalls 18,4) oder durch Gellius' Geringschätzung des Werkes eines Kollegen, das doch in Anlage und Inhalt dem eigenen zu gleichen scheint (14,6). Alles das ist plausibel dargelegt. Der über Iser vollzogene Anschluss solcher Methoden an die Antihelden des lateinischen Romans als paradigmatische Leerstellen (96) lässt allerdings zumindest den Rezensenten eher verwirrt als angeregt zurück. Offenkundig geht es Beer darum, das Ansehen "ihres" Autors zu mehren, wenn sie die bunte Vielfalt der Noctes Atticae der "Virtuosität" ihres Verfassers gutschreibt und die schwere Fassbarkeit einer konsistenten Erzähler-Persona als raffiniert konstruierte "Inkommensurabilität" deutet (111).
In keiner Monographie über Gellius fehlt die Auseinandersetzung mit den von Gellius als redend vorgeführten Lehrern und Bekannten wie Sulpicius Apollinaris, Fronto, Taurus und, vor allem dem aufgrund seiner hermaphroditischen Natur und seiner skeptischen Grundhaltung schillernden, in Körper und Geist non-binären Favorinus. Beers Analyse der wichtigsten Figuren (Kap. 2.3) ergibt, dass Gellius allgemein bekannte Züge dieser Personen nutzt (wie etwa Favorinus im Kapitel über die effeminierende Wirkung der Habgier in Noctes Atticae 3,1), ihre Persönlichkeit aber - auch über mehrere Kapitel hinweg - nicht in einer Weise ausgestaltet, dass sie mehr wären als Charakter-Typen. Immerhin gelingt es Beer durch ihre Fokussierung etwas besser als ihren Vorgängern, zu zeigen, dass Gellius überhaupt bewusst mit solchen Typen arbeitet.
Im folgenden Kapitel zur Polyphonie arbeitet sie die vielfältigen Mittel gründlich heraus, die Gellius zum Erzielen von Distanz und Ambiguität einsetzt. Dass aber seine Erzählerstimme die eines Schelmen wie der Romanfiguren Encolpius und Lucius (218), die in ihrer Kleinlichkeit hier und da vorgeführten Grammatiker Tölpelfiguren (228-230) bzw. die Noctes Atticae ein Stück karnevalesker Literatur im Sinne Bachtins seien (214), muss man nicht glauben. Ähnlich Kapitel 2.5: Beer stellt überzeugend dar, dass die überwiegende Zahl der Schauplätze der dialogischen Kapitel Räume des Übergangs wie Vorplätze oder Schiffe sind. Bachtins Konzept des Chronotopos aber, das doch für Texte entwickelt wurde, in denen eine Beziehung zwischen Schauplätzen und der Entwicklung von Figuren bzw. zur Chronologie einer Handlung zu beschreiben ist, passt auch hier nicht recht.
Im kurzen, nur 28 Seiten umfassenden dritten Hauptkapitel versucht die Autorin, mit Hilfe weiterer antiker und neuzeitlicher "verba-Sammler" einer "Poetik des Sammelns" - so die Kapitelüberschrift - auf die Spur zu kommen. Ausführlichere Behandlung erfahren die Naturalis historia des Plinius, Shaftesburys "Miscellaneous Reflections" und die Exzerpierlehre des Augsburger Jesuiten Jeremias Drexel von 1638. Andere, wie Walter Benjamins "Passagen-Werk", werden nur kurz berührt. Hier bleibt es bei einer, wenn auch anregenden, Skizze.
Im Fazit wird festgehalten, dass die Anlage der Noctes Atticae beim Leser eine Strategie des aktiven Lesens fördert und ein "Primat des Wie über das Was" (282) erkennbar wird. In der Sprache der Didaktik könnte man sagen: Die Vermittlung von Kompetenzen in Darstellung und Anwendung von Wissen ist wichtiger als die einzelnen Wissenselemente selbst. Dies und manches andere hat die Autorin überzeugend gezeigt, aber es wäre ohne Genette, Iser und Bachtin ebenso gut, vielleicht besser, gelungen. Immerhin kann der Versuch der Übertragung ihrer Konzepte auf Gellius jetzt als erprobt und erledigt gelten.
Anmerkungen:
[1] Aulus Gellius: An Antonine Scholar and his Achievement, Oxford 2003. In dieser Tradition, mit Fokussierung auf das Thema der memoria, auch Christine Heusch: Die Macht der Memoria, Berlin / New York 2011.
[2] Nox philologiae: Aulus Gellius and the fantasy of the Roman library, Madison 2009. Mit ähnlicher Zielrichtung in konventionellerer Form der Darstellung Joseph Howley: Aulus Gellius and Roman Reading Culture, Oxford 2018.
[3] W. Keulen: Gellius the Satirist, Leiden / Boston 2009.
Beate Beer: Aulus Gellius und die >Noctes Atticae<. Die literarische Konstruktion einer Sammlung (= Millenium-Studien zu Kultur und Geschichte des ersten Jahrtausends n. Chr. / Millenium Studies in the culture and history of the first millenium C.E.; Bd. 88), Berlin: De Gruyter 2020, VIII + 305 S., ISBN 978-3-11-069500-7, EUR 99,95
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