Eine Zugfahrt aus Wien in die westukrainische Stadt L'viv dauert heute sechzehneinhalb Stunden, ca. vier Stunden länger als vor dem Ersten Weltkrieg, als L'viv noch Lemberg hieß und Landeshauptstadt des habsburgischen Kronlandes Galizien war. Der Hauptbahnhof L'vivs befindet sich nach wie vor im Westen der Stadt, in relativ großer Distanz zum historischen Zentrum. Wie lässt sich die Lage des Gebäudes erklären? Wann wurde Galizien an das habsburgische Eisenbahnnetz angeschlossen? Welche Debatten waren damit verbunden? Wie wirkte sich die verkehrstechnische Anbindung auf das Stadtbild Lembergs aus und welche architektonische Gestalt hatten die Bahnhofsgebäude aus den Jahren 1861 und 1904? Diesen Fragen geht Nadja Weck in ihrer 2016 an der Universität Wien verteidigten Dissertation nach, die nun auch als Buch vorliegt. Im Mittelpunkt steht die Frage nach den "räumlichen Veränderungen, welche sich in Folge der Anbindung Lembergs an das Eisenbahnnetz hinsichtlich der Positionierung der Stadt innerhalb eines größeren geografischen Rahmens und ihrer inneren städtebaulichen Entwicklung vollzogen haben" (2).
Die Studie, die sich einer kulturwissenschaftlich orientierten Eisenbahn- und Stadtgeschichte verpflichtet fühlt, nähert sich ihrem Gegenstand aus drei Richtungen. In einem ersten Abschnitt geht es um die Genese Lembergs als Verkehrsknotenpunkt im Nordosten der Habsburgermonarchie im zweiten Drittel des 19. Jahrhundert, wobei Weck detailliert die Debatten um die verkehrstechnische Anbindung Galiziens in Wien und in Lemberg analysiert, die politischen Entscheidungen, die zum Bau der Bahnlinien nach (und aus) Lemberg führten, rekonstruiert und schließlich nach der Wahrnehmung Galiziens im Spiegel von zeitgenössischen Berichten von Eisenbahnreisenden fragt. Im zweiten Kapitel wird der Fokus enger gefasst und der städtische Raum der galizischen Landeshauptstadt in den Blick genommen. Weck beleuchtet hier nicht nur die Debatten um die Lage und den Bau der drei Bahnhöfe, die Lemberg vor 1900 mit Wien bzw. Krakau, Czernowitz und Brody verbanden. Gleichzeitig geht sie auch der Frage nach, welche Folgen die Anbindung der Stadt an das habsburgische Eisenbahnnetz für Lembergs ökonomische und städtebauliche Entwicklung hatte. Im dritten Abschnitt stehen die Bauten des Lemberger Hauptbahnhofs im Mittelpunkt. Hier werden die Entstehungsgeschichte des Gebäudes im "Kasernenstil" aus dem Jahr 1861 und die des Jugendstil-Neubaus von 1904 rekonstruiert, Berichte über die Feierlichkeiten zur Einweihung der beiden Bauten analysiert und nach der Repräsentation des Hauptbahnhofs im literarischen Werk der Schriftsteller Karl Emil Franzos, Alexander Granach und Józef Wittlin gefragt.
Für ihre multiperspektivische Arbeit hat Weck Archivmaterial aus drei Ländern (Österreich, Polen und Ukraine) und Quellen in drei Sprachen (Deutsch, Ukrainisch und Polnisch) sowie umfangreiche Sekundärliteratur ausgewertet. Die 2020, fast zeitgleich, erschienene englischsprachige Monografie von Andriy Zayarnyuk Lviv's Uncertain Destination: A City and Its Train Terminal from Franz Joseph I to Brezhnev konnte sie dabei noch nicht berücksichtigen. Der Studie liegt ein heterogenes Quellenkorpus zugrunde. Neben Textquellen - wie politischen Traktaten, Reiseberichten, Reiseführern, Publizistik und Belletristik - hat sich die Verfasserin mit Bildquellen (Zeichnungen, Fotografien, Stadtplänen, Landkarten unter anderem) befasst und Architektur sowie Werke der bildenden Kunst (zum Beispiel den Fassadenschmuck des Bahnhofs von 1904) als Quellen genutzt. Methodisch orientiert sie sich am Konzept des (sozialen) Raums nach Henri Lefebvre. Bei der Analyse des Lemberger Bahnhofs im dritten Abschnitt lässt sie sich auch-- aus mir nicht ganz nachvollziehbaren Gründen - von Juri Lotmans Theorie der "Semiosphäre" inspirieren.
Die historischen Akteure, die Wecks Arbeit "bevölkern", sind zum einen Politiker, Beamte, Verkehrsexperten, Stadtplaner und Architekten in Wien und Lemberg. Zum anderen kommen vier Autoren von Reiseberichten (beziehungsweise eines Reiseführers) und drei Schriftsteller zu Wort. Warum hier jedoch nur deutschsprachige Stimmen zu hören sind und nicht auch polnische oder ukrainische Perspektiven berücksichtigt werden, bleibt unklar. An fehlenden Sprachkenntnissen der Autorin liegt es nicht, da in einem anderen Teil der Arbeit die Berichterstattung über den neuen Bahnhof im Jahr 1904 auch in der ukrainischen und polnischen Presse beleuchtet wird. Gerne hätte ich als Leser zudem erfahren, wie viele Passagiere die Dienste der Eisenbahnen in Galizien eigentlich nutzten und welche der drei Fahrgastklassen besonders frequentiert waren. Gibt es hierzu keine Informationen in der zeitgenössischen Eisenbahnstatistik? Gelohnt hätte es sich meiner Meinung nach auch, danach zu fragen, welche Rolle die Eisenbahn (und die Lemberger Bahnhöfe) bei der Organisation der massenhaften polnischen, ukrainischen und jüdischen Auswanderung aus Galizien nach Übersee späten 19. und frühen 20. Jahrhundert spielte.
So vielfältig wie die hier behandelten Fragen und das untersuchte Quellenmaterial sind auch die Erkenntnisse der vorliegenden Studie, die insbesondere für die Forschung zur Geschichte Galiziens und der Stadt Lemberg von Interesse sein dürften. So kann Weck beispielsweise zeigen, dass "galizische Akteure", insbesondere polnische Adelige und Großgrundbesitzer, als Ideen- und Finanzgeber eine ausschlaggebende Rolle bei der Anbindung des Kronlands an das habsburgische Eisenbahnnetz spielten. Interessant mit Blick auf die Stadtgeschichte Lembergs ist auch die Erkenntnis, dass - anders als zum Beispiel in Krakau - die Vielzahl der politischen Akteure, die an der Entscheidung über den Standort des Bahnhofs der Carl-Ludwig-Bahn (des späteren Hauptbahnhofs) in Lemberg mitwirkten, die Suche nach einem günstigen Bauplatz erschwerte und die Wahl letztlich auf ein Grundstück fiel, das schon Zeitgenossen wegen seiner peripheren Lage als suboptimal betrachteten (308). Allerdings, das wird in Wecks Studie deutlich, entwickelte sich Lemberg nach 1861 aufgrund der Lage des Bahnhofs vor allem im westlichen Teil der Stadt recht dynamisch. Dennoch ließ die erhoffte industrielle Entwicklung Galiziens nach der Anbindung des Kronlandes an das Schienennetz auf sich warten, und die Provinz blieb innerhalb der Monarchie ein Lieferant von Rohstoffen und landwirtschaftlichen Erzeugnissen sowie Abnehmer für gefertigte Waren aus anderen Teilen des Reiches. Aufschlussreich finde ich auch die Beobachtung, dass sich die verhaltene Berichterstattung über die Einweihung des Lemberger Bahnhofsneubaus von 1904 in der polnischsprachigen Presse auch als Ausdruck eines "kühler werdenden Verhältnis[ses] zwischen Wiener Zentrum und galizischer Provinz" (271) interpretieren lasse.
Thesen dieser Art, die darauf abzielen, die hier gewonnenen Erkenntnisse in einen größeren historischen Kontext einzuordnen, hätte ich mir in der flüssig geschriebenen, manchmal jedoch stark deskriptiv gehaltenen Arbeit häufiger gewünscht. Insgesamt hätte es der Arbeit gutgetan, an der ein oder anderen Stelle den Fokus etwas zu weiten und Beobachtungen zur Stadt- und Verkehrsgeschichte Galiziens in Bezug zu aktuellen Forschungen zur Habsburgermonarchie (als imperialem Raum), zur Geschichte geografischer Mobilität (Binnenmigration und Auswanderung) oder zur Verkehrsgeschichte anderer Imperien, zum Beispiel des Russländischen Reiches oder Großbritanniens, zu setzen. Gewonnen hätte die Veröffentlichung auch durch die Erstellung von speziell auf den Inhalt der drei Abschnitte zugeschnittenen Landkarten bzw. Stadtplänen. Zwar ist der Band reich (und auch mit Kartenmaterial) illustriert. Die Reproduktionen der im Original großformatigen Karten sind im vorliegenden Band jedoch leider zum Teil kaum leserlich und daher wenig hilfreich bei der Orientierung in dem von der Eisenbahn neu geordneten galizischen Raum.
Nadja Weck: Eisenbahn und Stadtentwicklung in Zentraleuropa am Beispiel der Stadt Lemberg (Lwów, Lʼviv) (= Studien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Ostmitteleuropas; Bd. 29), Wien: Böhlau 2019, VII + 342 S., ISBN 978-3-447-11416-5, EUR 58,00
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