Lucius Flavius Arrianus aus Nikomedia in Bithynien (1./2. Jh. n.Chr.) ist kein leichter Autor - man hat es sich mit ihm in der Forschung nur manchmal zu leicht gemacht, wenn man ihn aus stilistischen Gründen einfach vernachlässigte oder ihm unterstellte, er habe große Teile seines Werkes lediglich abgeschrieben. Henning Schunk kann man bei seiner Untersuchung zur Darstellungstechnik in Arrians Indiké weder den Vorwurf machen, dass er Arrian unterschätzt noch dass er sich irgendetwas zu einfach gemacht habe. Seine Studie ist hochkomplex und bietet - wie es sich aus der Natur der Sache ergibt - einen großen Mehrwert - ist es doch unmöglich, Arrians Vorgehen in der Indiké angemessen zu würdigen, wenn man seine Anabasis außer Acht lässt.
Warum das so ist, zeigt Schunk bereits in seiner Einleitung auf: Auch wenn die Indiké von wenigen Forschern - wie Eduard Norden - wegen ihrer Eigenheiten geschätzt und die Anabasis ebenfalls von wenigen Gelehrten - wie Ernst Kornemann - als unselbständig angesehen wurde, tendiert die communis opinio seit dem 20. Jahrhundert dazu, Arrian für die Anabasis zu loben und in der Indiké eine unvollkommene Kompilation aus dem Fahrtenbericht des Nearchos von Kreta zu sehen. Schunks Ziel ist es nun, die "Erkenntnisse über das historiographische Arbeiten Arrians in der Anabasis auch für die Indiké [...] nachzuweisen." (5) Das soll durch die Analyse ausgewählter Abschnitte aus beiden Werken geschehen.
Es ist klar, dass a priori bei diesem Vorgehen mit zwei Problemen zu kämpfen sein wird: Zum einen muss der communis opinio über die Anabasis entweder vertraut werden oder man muss sich auch dort mit der Selbständigkeitsthematik auseinandersetzen. Zum anderen ist der Fahrtenbericht des Nearch nicht erhalten, so dass Aussagen über seine Form schwierig zu treffen sind.
Klar ist aber, dass man beiden Problemen so gut wie möglich begegnet, wenn man Verquickungen der beiden Arrian'schen Werke etabliert - durch das damit nahe gelegte Gesamtkonzept wird eine bloße Kompilation der Indiké und überhaupt eine Unselbständigkeit einer der Schriften unwahrscheinlicher gemacht. Diesen Zweck verfolgt Schunks erstes Kapitel - sowohl durch eine genaue Besprechung der beiden Vorverweise in der Anabasis auf die Indiké als auch der sieben Bezugnahmen in die umgekehrte Richtung. Zudem wird hier klar gemacht, dass das Werk über Indien zwei thematisch und strukturell abgrenzbare Teile aufweist - einen landeskundlichen Exkurs, den Schunk nach Ind. 17,7 meistens ἐκβολή nennt (in griechischen Buchstaben), und den Bericht über die Küstenfahrt des Nearch vom Indusdelta ins persische Susa, den er Paráplous nennt (mit lateinischen Buchstaben; wie ἐκβολή hätte man natürlich auch Ind. 19,9 folgend παράπλους schreiben können).
In seinem zweiten Kapitel geht Schunk auf Arrians Quellen ein - naturgemäß ein wichtiger Punkt in einer Studie, die die Eigenständigkeit des Historikers aus Nikomedia erweisen will. Zunächst wird anhand der Anabasis die Methodik bei der Quellenbehandlung vorgeführt (insb. 52-58): Arrian bevorzugt Autoren, die Orte selbst gesehen und Ereignisse selbst miterlebt haben und die ihm vertrauenswürdig erscheinen; wenn sich ihre Schilderungen entsprechen, gestaltet er eine darauf beruhende Version in seinen Narrativ; wenn es Abweichungen gibt, stellt er mehrere Versionen gleichberechtigt nebeneinander oder tut kund, was er für wahrscheinlicher hält. Schunk zeigt, dass Arrian auch in der ἐκβολή entsprechend vorgeht; für den Paráplous ergibt sich der signifikante Unterschied, dass Nearchs (heute verlorener) Bericht hierfür nach eigener Aussage des Nikomediers die einzige Quelle ist. Meisterlich greift Schunk deshalb zu einem indirekten Verfahren, indem er zunächst erweist, dass die Zitiermethoden in der Anabasis und im Paráplous identisch sind, und er dann inhaltlich äquivalente Abschnitte aus dem Paráplous und aus Strabons Geographie miteinander vergleicht (92-109; Strabon hat ebenfalls direkt mit Nearchs Narrativ gearbeitet). Hier zeigt sich als wahrscheinlichstes Ergebnis, dass Arrian die Details aus dem Text des Kreters wohl literarisch überformt und ihn seiner eigenen Darstellungsabsicht unterworfen hat.
Diese wird in Schunks drittem und viertem Kapitel klarer, die man als zwei Seiten einer Medaille sehen kann. Ihre Titel - "Alexander und Nearch" bzw. "Nearch und Alexander" - wecken zwar eine gewisse Neugier; ob sie perfekt gewählt sind, sei dahingestellt, wenn man etwa berücksichtigt, dass in beiden Kapiteln Charakteristika Alexanders analysiert und dann mit Blick auf Nearch untersucht werden. Bisweilen (so bei der Untersuchung des πόθος-Motivs (170-179)) wird auch lediglich der Alexander der Anabasis mit dem der Indiké vergleichen - hier tritt Nearch völlig zurück.
Der Gewinn der Kapitel ist dennoch groß: In beiden wird untersucht, wer der eigentliche Protagonist im Paráplous der Indiké ist - im ersten unter kompositorischen Aspekten, im zweiten unter motivischen. Knapp gesagt ist das Ergebnis, dass nicht nur die Anabasis ein Werk zu Ehren Alexanders des Großen ist, sondern auch die Indiké. Zwar steht Nearch im Paráplous deutlich im Vordergrund, wird aber mit Kategorien geschildert, die in der Anabasis Alexander zustehen, und das in etwas geringerem Maße. Mit Bezug auf die εὐσέβεια stellt Schunk für die Indiké etwa heraus, dass beide Anführer Opfer darbringen, die Handlungen Alexanders denen des Nearch aber jeweils vorausgehen (150-155). Zudem sind gleiche Eigenschaften bei beiden Anführern vorhanden, aber der Superlativ (φιλοπονώτατος, ἀνδρειότατος, φιλοτιμότατος etc.) bleibt jeweils Alexander vorbehalten (150 und 162-165).
Um seine These vom einheitlichen Konzept der beiden arrianischen Werke weiter zu unterfüttern, untersucht Schunk in seinem fünften Kapitel Homerreminiszenzen: Zwar wäre es möglich, dass der Nikomedier diese in Nearchs Fahrtenbuch vorgefunden hat, aber wenn man sieht, dass die Anabasis ausweislich ihres Vorworts und der Achill-Parallelen als zweite Ilias stilisiert wird, während die Indiké ganz augenfällige Spuren zur Odyssee legt, ist kaum zu leugnen, dass hier ein Gestaltungswille des Arrian sichtbar wird.
Nicht direkt auf Homer - und schon gar nicht auf Nearch - führt Schunk im Übrigen den (pseudo-)ionischen Dialekt zurück, in dem die Indiké im Gegensatz zur Anabasis abgefasst ist. Hier manifestiere sich vielmehr eine Reverenz an Herodot, die Schunk auch motivisch und strukturell untermauern kann (60-63).
Die Seiten 247 bis 282 werden von zwei statistischen Anhängen eingenommen; der erste (längere) versucht, die sprachliche Nähe von Anabasis und Indiké anhand des Präpositionalgebrauchs zu erweisen, der zweite untersucht das Vorkommen 'homerischen' Wortmaterials in der Indiké (aber auch in der Anabasis und bei Herodot). Ob diese Tabellen Schunks qualitative Analysen so "klar und verständlich" illustrieren, wie er suggeriert (6-7), sei dahin gestellt; wenn man sich darauf einlässt, ist zu erkennen, dass sie seine Thesen tatsächlich quantitativ untermauern.
Neben einer umfangreichen Bibliographie bietet das Buch einen hilfreichen Stellenindex; auf ein Sachregister wurde bedauerlicherweise verzichtet.
Wollte man - neben den wenigen oben angedeuteten Punkten - Kritikwürdiges in Schunks opus grande suchen, fielen höchstens einige schwer lesbare Sätze auf - allen voran ein dreizehnzeiliges Konstrukt mit achtzeiligem Klammereinschub auf den Seiten 40 und 41 - oder einige (wenige) irritierende Druckfehler. Daraus ist jedoch schon abzulesen, dass sich die Kritik in Nebensächlichem erschöpft und Schunk ein neuer Ansatz in der Arrianforschung gelungen ist, der gleichermaßen philologisch, empirisch-linguistisch und historisch Interessierte anspricht. Endgültig beweisen ließe sich die eigenständige Kompositionstechnik der Indiké wohl nur, wenn das Originalwerk des Nearch gefunden würde; Schunks ausführliche Überlegungen kommen einem Beweis aber so nahe, wie es möglich ist.
Henning Schunk: Arrians "Indiké". Eine Untersuchung der Darstellungstechnik (= Philippika. Altertumswissenschaftliche Abhandlungen; Bd. 135), Wiesbaden: Harrassowitz 2019, 316 S., ISBN 978-3-447-11282-6, EUR 78,00
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