Die Geschichte Lotharingiens ist schon lange kein vernachlässigtes Thema mehr - zahlreiche Projekte, Arbeitskreise und Monografien haben sich in den vergangenen Jahrzehnten mit dem Zwischenreich befasst und reiche Erträge erbracht. Auf ihnen beruhen die Beiträge dieses Sammelbandes, der - wie es inzwischen bei diesem Themenfeld guter Standard ist - in internationaler Zusammenarbeit entstand und somit die Forschungslandschaft in allen Nachfolgern Lotharingiens repräsentiert.
Der Band gliedert sich in vier Sektionen, die nacheinander die Könige und das Königreich Lotharingien, dann die Laienaristokratie, den kirchlichen Raum und schließlich den Bereich Texte und Sprachen behandeln. Die Beiträge behandeln die Zeit vom 9. bis zum 12., in einigen Fällen bis zum 14. Jahrhundert, dabei zeigt sich eine zeitliche fortschreitende geographische Verengung: Behandeln die Beiträge zu der Zeit vor dem Jahr 1000 das Reich Lothars II., befassen sich die Beiträge zu späteren Themen vor allem mit dem Raum des heutigen Lothringen/Lorraine.
Wie nicht anders zu erwarten, liegt der Schwerpunkt der ersten Sektion zu den Königen bei Lothar II., dem Namensgeber Lotharingiens. Eva-Maria Butz macht zunächst die Memorialüberlieferung zu Lothar II. in den Gedenkbüchern von Reichenau und Remiremont fruchtbar und kann dabei insbesondere nachweisen, dass seine Frau bzw. Konkubine Waldrada zunächst in Zürich und später in Remiremont unter dem Schutz Ludwigs des Deutschen gestanden haben muss. Linda Dohmen kann anschließend in den vergleichsweise wenigen Urkunden Lothars II. ein Anknüpfen an die Urkundenpraxis seines Vaters erkennen, der ebenfalls relativ häufig einen Treuevorbehalt in Urkunden für Einzelpersonen einfügte. Im nächsten Beitrag der Sektion widmet sich Horst Lößlein auf der Basis seiner Dissertation zu Karl dem Einfältigen dessen - nach eigener Auffassung erblichen - Anspruch auf Lotharingien. Der Erbanspruch wurde zumeist auf seine Rolle als einziger legitimer Karolinger zurückgeführt; Lößlein schlägt jedoch vor, dass die Übertragung des westlichen Teils von Lotharingien an Ludwig den Jüngeren im Vertrag von Ribemont im Jahr 880 lediglich auf dessen Lebenszeit (und die Karls III.) erfolgt sein könnte - möglicherweise beanspruchte Karl der Einfältige Lotharingien also als Erbe seines Vaters. Im letzten Beitrag der ersten Sektion befasst sich Hérold Pettiau mit den bisher noch nicht untersuchten Itineraren Lothars I. und Lothars II. Anders als die übrigen Frankenkönige konnten sie auf ein etabliertes Netz von Pfalzen zurückgreifen, das sie grundsätzlich in ähnlicher Weise nutzten; überwiegend hielten sie sich zwischen Maas und Eifel im Norden und entlang der Mosel zwischen Thionville und Remiremont auf.
Die zweite Sektion über "Aristocratie laïque et relations féodales" schließt im ersten Beitrag direkt an die vorangegangen an: Thomas Wittkampf behandelt Hugo, den Sohn Lothars II. und der Waldrada, dessen Versuche als König anerkannt zu werden in seiner Blendung endeten. Wittkamp beleuchtet dabei vor allem Hugos enge Beziehungen zum Normannenfürst Gottfried, was er in die Beziehungen Lothars I. und II. zu Gottfrieds Verwandten einordnet. Dabei zeigen sich deutliche Kontinuitäten, die insbesondere durch die exponierte Lage des Mittelreichs bzw. Lotharingiens zu erklären seien. Keiner seiner Vorfahren war jedoch darauf so angewiesen wie Hugo. Einer anderen Schlüsselfigur der lotharingischen Geschichte wendet sich anschließend Daniel Schumacher zu, der Herzog Giselbert (915-938) behandelt. Dessen Schaukelpolitik zwischen den ost- und westfränkischen Königen erklärt Schumacher dabei mit der Instabilität der Stellung des Herzogs, der seine Herrschaft hauptsächlich auf die Laienabbatiate großer Klöster stützte. Tristan Martine befasst sich in der Folge in einem deutschsprachigen Beitrag mit der Frage, ob sich bei der lotharingischen Aristokratie im Verlauf des 10. und 11. Jahrhunderts ein verändertes Raumbewusstsein im Sinne einer Territorialisierung erkennen lässt. Am Beispiel der Familie der "Folmare" im Saulnois sowie eines Grafen Hugo, der wohl um 1030 mit einer Burg als Herrschaftsmittelpunkt in Verbindung gebracht wird, zeigt er die methodischen Schwierigkeiten auf, die eine Klärung dieser Frage erschweren. Michel Margue fasst anschließend seine Forschungen zur Entwicklung der (insbesondere gräflichen) Vogtei im zentralen Lotharingien im 11. und 12. Jahrhundert zusammen und spricht sich dafür aus, die Veränderungen im Grundbesitz von Klöstern im Zusammenhang mit der Vogtei nicht (nur) im Lichte der monastischen Klagen über Usurpationen zu betrachten. Im Anschluss behandelt Thomas Brunner auf der Basis eigener älterer Studien das Vokabular über Treuebeziehungen und Landleihen in lothringischen Urkunden bis zum Jahr 1100 und stellt dabei eine Korrelation zwischen Landleihen und Treuebeziehungen fest, die sich insbesondere im 11. Jahrhundert zeige. Leider finden die aktuellen Forschungen zum Lehnswesen hier kaum Berücksichtigung.
Die dritte Sektion behandelt den kirchlichen Sektor, vor allem in den Diözesen Verdun und Metz, die gemeinsam betrachtet ein dichtes Bild der Region erzeugen. Pieter Byttebier untersucht minutiös die Geschichte Verduns und seiner Bischöfe von 983 bis 986 und zeigt, wie die um 1047 entstandenen Bischofsgesten aus den unübersichtlichen Ereignissen der Vergangenheit Sinn stifteten. Anne Wagner behandelt anschließend knapp die Rolle von Reliquientranslationen für die Konstitution der Diözese Metz vom 7. bis ins 12. Jahrhundert. Felix Schaefer stellt Metz, Aachen und Prüm als karolingische Erinnerungsorte vor und untersucht exemplarisch die Metzer Arnulftradition in spätkarolingischen Handschriften. Mit den Pfarrkirchen der Metzer Frauenklöster in der Zeit vom 12. bis zum 14. Jahrhundert befasst sich Gordon Blennemann, der diese Kirchen als Knotenpunkte sozialer, politischer und religiöser Kommunikation vorstellt, durch die auch Frauenklöster im lokalen Gefüge wie auch in der Kirche insgesamt verankert wurden.
Die letzte Sektion befasst sich mit Quellen und Sprache. Jens Schneider untersucht zunächst die historisch belastete Frage nach den germanischen und romanischen Volkssprachen in Lotharingien. Dafür untersucht er alle 18 bekannten, mit einiger Sicherheit dem lotharingischen Raum zuzuordnenden Texte und stellt fest, dass der Raum in der Sprachgeographie mit dem Osten wie mit dem Westen verzahnt ist. Thomas Bauer setzt sich anschließend in einem persönlich gehaltenen Beitrag differenziert mit Jens Schneiders Dissertation über Lotharingien auseinander, die ihrerseits auf Bauers Buch zum Thema reagierte. [1] Hannes Engl und Jean-Pol Evrard befassen sich anschließend mit Urkunden aus Regularkonikerstiften. Während Engl die Beziehungen zwischen Päpsten und Regularkanonikerstifen in Lothringen im 11. und 12. Jahrhundert analysiert, untersucht und ediert Evrard eine Urkunde Theoderichs von Verdun für das Stift St. Maria Magdalena in Verdun. Die Sektion endet mit einer Forschungsbilanz zur Hagiographie aus Lotharingien von Klaus Krönert, bevor die Herausgeber in einem zweisprachigen Fazit den Band schließen.
Hervorzuheben ist hier - wie im gesamten Band - ein Bewusstsein für die unterschiedlichen nationalen Forschungstraditionen und ihren Einfluss. Insgesamt ist der Band eine rundum gelungene Abbildung der internationalen Lotharingienforschung und ihrer Traditionen einerseits, andererseits aber auch ihrer Überwindung durch Dialog und Adaption von Themenfeldern und historiographischen Modellen über die nationalen Grenzen hinaus.
Anmerkung:
[1] Jens Schneider: Auf der Suche nach dem verlorenen Reich. Lotharingien im 9. und 10. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien 2010; Thomas Bauer: Lotharingien als historischer Raum. Raumbildung und Raumbewußtsein im Mittelalter, Köln / Weimar / Wien 1997.
Tristan Martine / Jessika Nowak (éds.): D'un regnum à lautre. La Lotharingie, un espace de l'entre-deux ? Vom regnum zum imperium. Lotharingien als Zwischenreich ? (= Collection "Archéologie, Espaces, Patrimoines"), Freiburg/Brsg.: Rombach 2021, 393 S., ISBN 978-2-8143-0570-0, EUR 25,00
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