Das hier zu rezensierende Buch enthält die erste deutsche Übersetzung der Genesis-Versifikation Alethia des spätantiken, aus Marseille stammenden Rhetors Claudius Marius Victorius; hierbei handelt es sich um eine derjenigen Bibelversifikationen, die im Mittelalter nicht kanonisch geworden sind.
Vorauszuschicken ist der Rezension, dass es immer erfreulich ist, wenn Fachwissenschaftler, die sich in der Erforschung bestimmter Autoren verdient gemacht haben (so Kuhn-Treichel durch seine von mir ebenfalls rezensierte Dissertationsschrift [1]), sich nicht scheuen, zweisprachige Ausgaben vorzulegen; so lässt sich der bei Dichtern der klassischen Antike oft zu beobachtende Missstand vermeiden, dass deutsche Übersetzungen von kaum etablierten Forschern stammen und somit nicht den aktuellen Forschungsstand widerspiegeln. Umso erfreulicher ist, dass die Alethia in ihrer deutschen Gestalt jetzt aus der Hand eines führenden Experten vorliegt.
Zur Einleitung: Der Autor wird, wie meistens, mit der Gennadius-Biographie identifiziert, trotz einiger notorischer Probleme (10-13). Kuhn-Treichel bemüht sich um den Nachweis zeitgenössischer theologischer Bezüge (13). Seine Inhaltsparaphrase orientiert sich an dem jeweils verschiedenen Ausmaß, in welchem Claudius Marius Victorius verschiedene Genesis-Partien berücksichtigt (14-18); im Mittelpunkt der dichterischen Komposition stehen die biblischen Figuren Adam, Noah und Abraham (19). Bereits hier erhebt sich die Frage, ob es nicht kompositionell angemessener wäre, das Leben Abrahams zu Ende zu bringen. Gennadius bezeugt für die Alethia vier Bücher und ein Werkende mit dem Tod Abrahams, und diese beiden Angaben scheinen mir trefflich zusammenzupassen. Mit diesem Befund könnte zusammenstimmen, dass dann die Enden von Buch II und III mit den konträren Bezügen auf das Wasser der Sintflut bzw. das Feuer von Sodom und Gomorrha als innere Buchdyade korrespondieren, ebenso wie die Schlüsse von Buch I (der scheinbar verlorene Adam und seine Aussicht auf Erlösung durch Christus) und Buch IV (das versuchte Opfer Isaaks als Typologie der Erlösungstat Christi) auf christologischer Ebene korrespondieren könnten; auch im Inneren von Buch IV könnte, wenn der Rhetor etwa einen Entscheidungsmonolog Abrahams vor der Opferung Isaaks gestaltet hätte, das von Kuhn-Treichel in den Einzelbüchern immer wieder gefundene Motiv der zeitweiligen Entfremdung von Gott berücksichtigt worden sein. Trotzdem vertritt Kuhn-Treichel die These, das Werk sei in seiner überlieferten Form mit dem III. Buch abgeschlossen (21-22).
Ein relativ schwieriges Kapitel ist die Stellung des Claudius Marius Victorius zum Semipelagianismus (22-26). Weitere gewichtige Themen der Einleitung sind die Stellung der Alethia zwischen den verschiedenen Bibelübersetzungen Vetus Latina und Vulgata (33-36), theologische Einflüsse auf den Dichter, besonders von Ambrosius und Augustin (36-42), sowie philosophische (42-45). Im Folgenden geht es dann eher um literarische Vorbilder, nämlich epische (45-50) und solche des Lehrgedichts (50-55) - das zentrale Thema von Kuhn-Treichels Dissertation; er betrachtet gemäß seiner Grundthese die epischen Bezüge als abnehmend und unzusammenhängend, dagegen diejenigen auf das Lehrgedicht als zunehmend und kohärent. [2] In der Geschichte der Bibeldichtung nimmt Claudius Marius Victorius eine gewisse Mittelstellung ein (55-57); [3] mit seiner nachhaltigem Berücksichtigung Lukrezens befindet sich der Autor jedoch in einer Art von "Sackgasse" innerhalb der Bibeldichtung (58), insofern dieser Klassiker von späteren Bibeldichtern nicht mehr wesentlich rezipiert wird. Insgesamt findet die Alethia im Mittelalter relativ wenig Verbreitung, worin sich wohl der Einfluss des negativen Urteils des Gennadius zeigt (58-59).
Den Abschluss von Kuhn-Treichels Einleitung macht die Editionsgeschichte: die einzige erhaltene Handschrift, der Codex Parisinus Latinus 7558, der heutzutage bequem digital zugänglich ist [4], erhält ein gewisses, schwer zu benutzendes Korrektiv durch die 1536er Ausgabe von de Gagny, dem eine wohl schwer lesbare, heute verlorene Handschrift aus Lyon vorlag, welche de Gagny zum Gegenstand seiner freien Rekonstruktion des Alethia-Textes machte (59-60). [5] Kuhn-Treichel stützt sich in seiner zweisprachigen Ausgabe weniger auf diese Handschriften, sondern vor allem auf die Corpus-Christianorum-Ausgabe von Hovingh (63), aus der er einige, teils das Metrum beeinträchtigende Fehllesungen übernimmt: In I 174 ist gemäß Handschrift namque für nam zu lesen, in I 426-427 excelsum statt exemplum und in II 14 Plana statt Plane. Einige andere Druckfehler in Kuhn-Treichels Text: In 146 muss es scit für sit heißen, in I 354 aliis für allis, in II 178 magistris für magisteri, in III 330 fraude für faude.
Kuhn-Treichels Übersetzung folgt eng dem (durchaus anspruchsvollen und oft umstrittenen) lateinischen Text und befindet sich durchgehend auf der Höhe der modernen Forschung. Für eine detaillierte und kontroverse Auseinandersetzung mit einzelnen Stellen fehlt in diesem Format jedoch der Raum. [6]
Anmerkungen:
[1] Gnomon 90 (2018) 609-614.
[2] Hierzu vgl. ausführlich die in der vorigen Anmerkung zitierte Gnomon-Rezension.
[3] Das Werk des Alcimus Avitus heißt richtig De spiritalis historiae gestis.
[4] https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b10077256r.r=latin%207558?rk=21459;2
[5] 59 Anm. 150 et statt ed zu lesen.
[6] Vgl. demnächst Editionen in der Kritik 12, 2022.
Claudius Marius Victorius: Alethia. Wahrheit. Eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Thomas Kuhn-Treichel (= Fontes Christiani; Bd. 71), Freiburg: Herder 2018, 288 S., ISBN 978-3-451-32907-4, EUR 43,00
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