Die strikte Trennung zwischen Bibliothek und Museum, Informationsspeicher und Objektpräsentation ist eine Erscheinung der auf Spezialisierung setzenden Moderne. Im 16. und 17. Jahrhundert waren die Grenzen fließend. Es gab kaum ein größeres Raritätenkabinett, in dem nicht auch einige dazu passende Bücher aufgestellt waren. Zugleich traten Bibliotheken auf den Plan, oft in städtischer Hand, die nicht nur Bücher aufstellten, sondern auch kuriose Dinge aufbewahrten und zeigten. Dieser Aufsatzband stellt nun ein besonders typisches Fallbeispiel in den Mittelpunkt: Die historische Stadtbibliothek in Nürnberg. Sie war von der Reformationszeit bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs in den Gemäuern des ehemaligen Dominikanerklosters direkt neben dem Rathausgebäude untergebracht. Gäste, die den Rat der Stadt besuchten, konnten problemlos einen Abstecher in das ehemalige Konventsgebäude machen, wo im ersten Stock direkt über dem Kreuzgang in vier Umgängen Bücher aufgestellt, sowie Objekte wie Kunstwerke, Naturalia, wissenschaftliche Geräte und ethnografische Zeugnisse ausgestellt waren. Dank der sorgfältigen Rekonstruktionsarbeit durch Christine Sauer, die seit vielen Jahren als Kustodin für die historischen Sammlungen der Nürnberger Stadtbibliothek verantwortlich ist, ist es nun möglich, sich ein präzises Bild von dieser heterogenen Sammlung zu machen.
Kennern ist das Konzept dieser "hybriden Einrichtung" (17) in Nürnberg nicht unbekannt, wurde doch zu den "Memorabilien" - so die zeitgenössische Bezeichnung - 1674 eine reich illustrierte Druckschrift vorgelegt. [1] Wie der Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Altdorf in der Einführung hervorhebt, bemisst sich der Wert der Bibliotheken nicht nur durch die Menge der Schriften, sondern auch in der Durchmischung ("farrago") verschiedener den Wissenschaften dienender Dinge. In so mancher Reisebeschreibung wurde der Raritätensammlung in der Stadtbibliothek mehr Aufmerksamkeit gewidmet als den dort vorhandenen Büchern.
Herzstück dieses Sammelbandes ist Christine Sauers 80-seitiger Beitrag, dem sich am Ende noch ein 28-seitiger Anhang anschließt. Dort sind die Objekte der Reihe nach beschrieben - nicht nur die heute noch Vorhandenen, sondern auch die verlustig Gegangenen. Die Liste ist mit ca. 150 Objekten - ein Drittel hat sich im Original in den Museen der Stadt Nürnberg erhalten! - überschaubar, aber dennoch beeindruckend: Römische Öllampen sind darunter, sowie menschliche Nieren-, Gallen- und Blasensteine oder mathematische und astronomische Instrumente, syrische Astrolabien aus dem 12. Jahrhundert inklusive. Angesengte Bibeln, die wundersam Brandkatastrophen überstanden, fehlen ebenso wenig wie ein 36-Liter-Fass, in dem sich angeblich die in einem ungarischen Bergwerk aufgespürte Materie des Steins der Weisen befunden haben soll. Der Wert von Sauers kleiner Monographie besteht vor allem darin, derartige Objekte aus ihrer Anonymität hervorzuholen und auf informative Weise zum Sprechen zu bringen. Dabei streicht sie deren Forschungs- und Bildungsanspruch heraus: "Die Gegenstände sollten betrachtet und berührt werden, Staunen erregen und Neugier entfachen, Assoziationen auslösen und so zu neuen Erkenntnissen führen." (28) Aus Kuriosum und Skurrilität Wissen zu erzeugen, war damals fast Standard, wie schon die ersten Zeitschriftenausgaben der neu gegründeten wissenschaftlichen Akademien in London und Paris dokumentieren. Dass das epistemische Potenzial noch mehr hätte ausgeschöpft werden können, darauf mag bereits der Buchtitel Wunderkammer im Wissensraum hindeuten. Gerade in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts war die "Wunderkammer" weitaus mehr als bloß der Annex eines bereits bestehenden Wissensraums. Später traten andere Gesichtspunkte in den Vordergrund. So empfahl sich die Stadtbibliothek als Ort nachhaltiger Erinnerungsbildung. Die "Memorabilien" hätten damals nirgendwo einen besseren Gedächtnisort gefunden. Vor allem waren es Gelehrte, Handwerker und Künstler, die bei der Stadtbibliothek um Aufbewahrung ihrer "Merkwürdigkeiten" nachsuchten. Der Frage, ob wir es hier eher mit einem Sammelsurium zu tun haben oder mit einer systematischen Sammlung, begegnet Sauer mit dem Urteil, dass bei der Zusammenstellung der Objekte wohl nie ein Anspruch auf enzyklopädische Vollständigkeit bestanden habe.
Flankiert wird Sauers Beitrag von vier Aufsätzen, die verwandte Einrichtungen behandeln, zwei von ihnen docken diese städtische Bibliothek an Kunstkammerphänomene in Geschichte und Gegenwart an, die beiden anderen betten sie in die vielfältige Sammlungstopographie Nürnbergs ein. Claudia Valter führt aus, dass in Nürnberg als oligarchisch verfasstem Gemeinwesen Kunst- und Naturalienkabinette keine Seltenheit waren (113-127). Aber nicht nur derartige Sammlungen machten die materielle Kultur in Nürnberg so facettenreich, auch einzelne Handwerkszweige - ebenso spezialisiert wie hochentwickelt - produzierten aussstellungswürdige Objekte. Dass Meisterstücke verschiedener Kunsthandwerke in das Eigentum der Stadt überführt wurden, um als Medien urbanen Stolzes öffentlich präsentiert zu werden, ist Thema des Aufsatzes von Elke Valentin (97-111).
Eva Dolezel kommt in ihrem einleitenden Überblick zu frühneuzeitlichen Museen auf Grundlage von Bildquellen und zeitgenössischen theoretischen Bestimmungen zum Schluss, dass sich die Verbindung zwischen Buch und Objekt gegen Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts "zum definitorischen Prinzip" (9) von Sammlungsräumen entwickelt habe, ob nun bei Kunst- und Naturalienkammern oder bei Bibliotheken. Sie weist darauf hin, dass die Nürnberger Stadtbibliothek im europäischen Konzert der Kunst- und Wunderkammern durchaus präsent war. Vor allem reisefreudige Zeitgenossen waren es, die überregionale, internationale Bezüge zwischen einzelnen Sammlungsorten herstellten. So befanden sich in London und vielen anderen Orten verwandte Objekte, die den Nürnberger Bestand stimmig ergänzten.
Sarah Wagner wirft in ihrem Beitrag einen Blick auf die Ausstellungsszene von heute, die zunehmend auf Inszenierungsformen zurückgreift, die man mit der frühneuzeitlichen Kunst- und Wunderkammer assoziiert (127-145). Vor allem begibt sie sich auf erhellende Spurensuche und stellt fest, dass die Kunstkammer auch in den Hochzeiten der Museumsspezialisierung nie ganz tot war. Heute steht das "Prinzip Kunstkammer" bei Künstlern (Mark Dion, Rosamond Purcell) und Kuratoren hoch im Kurs, ob sie sich nun der akribischen historischen Rekonstruktion widmen, der historisierenden Andeutung oder einer modernen Neuinzenierung. Sobald eine Regalwand mit subtil beleuchteten Nischen auftaucht, in denen jeweils nur ein Objekt zur Geltung kommt, wird die Idee einer auf der "ars combinatoria" beruhenden Kunstkammer evoziert. Auch im Internet mit seinen sozialen Netzwerken, wo Objekte über Hashtags miteinander verbunden sind, kommt das Prinzip Kunstkammer als "assoziative Informationsvernetzung" (144) zum Vorschein.
Die kundig bebilderte und mit einem differenzierten Register versehene Sammelband bietet einen zuverlässigen Einstieg in ein (immer noch) vernachlässigtes Thema. [2]
Anmerkungen:
[1] Johann Jacob Leibnitz: Inclutae Bibliothecae Norimbergensis Memorabilia [...], Nürnberg 1674.
[2] Stefan Laube: Luthers Maske und Melanchthons Schuh. Die Bibliothek als Kunstkammer der Reformation, in: Wissensspeicher der Reformation. Die Marienbibliothek und die Bibliothek der Franckeschen Stiftungen in Halle, hg. von Doreen Zerbe, Halle 2016, 57-71; Stefan Laube: Keine Bibliothek ohne Wunderkammer. Kuriositäten in der herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel, in: Die Herzog August Bibliothek. Eine Sammlungsgeschichte (erscheint 2022 in der Reihe "Wolfenbütteler Forschungen").
Christine Sauer (Hg.): Wunderkammer im Wissensraum. Die Memorabilien der Stadtbibliothek Nürnberg im Kontext städtischer Sammlungskulturen (= Beiträge zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg; Bd. 27), Wiesbaden: Harrassowitz 2021, VIII + 197 S., ISBN 978-3-447-11611-4, EUR 24,00
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