Die Zerstörung Jerusalems und des jüdischen Tempels im Jahr 70 n.Chr. durch die Soldaten des Titus ist ein welthistorisches Ereignis, über dessen Hergang, Folgen und Bedeutung oft und kontrovers gestritten worden ist. [1] Der von Frédéric Chapot herausgegebene Band beschäftigt sich allerdings explizit (12) nicht mit diesen Fragen, sondern mit den literarischen Traditionen und Interpretationen der Zerstörung, also einem Prozess, der von Flavius Josephus bereits kurz nach dem Ende des Jüdischen Krieges in Gang gesetzt worden war. Da es zu den ersten drei Jahrhunderten n.Chr. bereits eine Monographie mit demselben Zuschnitt gibt [2], deckt der Band diesen Bereich sinnvollerweise nicht noch einmal ab. Stattdessen wird in einem ersten Teil der ursprüngliche Bericht des Josephus kontextualisiert, während der zweite Teil die spätantike und mittelalterliche Rezeption behandelt.
Zwei lange Beiträge, die zusammen rund ein Drittel des Bandes ausmachen, widmen sich der antiken Tradition des Zerstörungsberichts (deren weitaus ausführlichster Vertreter Josephus selbst ist). Alain Chauvot wertet zu diesem Zweck praktisch alle Hinweise oder Notizen zu Städtezerstörungen im Römischen Reich aus, die sich in der Literatur finden; der äußerst wertvolle und vorbildlich organisierte Überblick sammelt nicht nur Daten zur Häufigkeit der Erwähnung etwa von Ritualen wie devotio und evocatio, sondern unterscheidet auch konsequent zwischen der Zerstörung der Stadt als Siedlung ("ville") und der Stadt als politischer und religiöser Gemeinschaft ("cité") - eine Unterscheidung, die in den Quellen allerdings oft verwischt wird. Deutlich selektiver behandelt das zweite Kapitel (von Chapot und Jean-Luc Vix) die Stadtzerstörung als literarisches Motiv etwa bei Historikern, Rednern oder Theologen; hier werden bereits Themen des zweiten Teils vorweggenommen, denn nur christliche Autoren interessieren sich für letztgenannten Aspekt. Ein kurzes Kapitel von Régine Hunziker-Rodewald zum ersten Klagelied (bzw. seinen ersten sechs Versen) soll wohl die biblische literarische Tradition in Bezug auf Stadtzerstörungen abdecken, ist dafür aber viel zu spezifisch geraten und erwähnt auch mit keinem Wort das Thema des Bandes, nämlich die Zerstörung des Jahres 70; da andere Beiträge die relevanten alttestamentlichen Stellen bzw. ihre Rezeption durch spätere Autoren behandeln, ist die so entstandene Lücke indes nicht allzu gravierend. Vor allem das ausführliche Folgekapitel, in dem Serge Bardet den Bericht des Josephus über die Belagerung (nicht eigentlich die Zerstörung) Jerusalems seziert, bietet hier Einiges - nicht zuletzt die Vermutung (160 f.), dass sich manche besonders bekannte Episode wie etwa die Teknophagie Marias eher der Bibelkenntnis des Josephus als einem tatsächlichen historischen Ereignis verdankt.
Eusebius eröffnet den zweiten Teil. Hervé Huntzinger zeigt, dass ein Interesse an der Eroberung Jerusalems und ihren Folgen keineswegs ein Bekenntnis zur Vorrangstellung dieses Ortes bedeuten musste: Was Eusebius am Jerusalem seiner Zeit interessiere, seien die Ruinen als Beleg für die Wahrheit der Prophezeiungen und den endgültigen Bruch Gottes mit den Juden, nicht eine besondere Heiligkeit oder Autorität des Ortes - gegen letztere Deutung habe Eusebius als Metropolit Caesareas sogar sehr bewusst argumentiert. Der Beitrag konzentriert sich vor allem auf die älteren Schriften des Eusebius und weiß mit der Vita Constantini, die immerhin Konstantins Kirchenbauten als Anlass für die Ausrufung des "Neuen Jerusalem" nimmt, nicht viel anzufangen. So entsteht eine gewisse Spannung zum nächsten Kapitel von Gabriella Aragione über Konstantin und Julian, in dem auch Eusebius an der Neuinterpretation Jerusalems als christlicher Stadt mitwirkt (213). Aragione zeichnet die schrittweise Entwicklung der christlichen Selbstverortung in Jerusalem nach und beschreibt treffend die Herausforderung, die Julians Pläne eines Wiederaufbaus des jüdischen Tempels für das christliche Selbst- und Geschichtsverständnis zweifellos war. Mit Pseudo-Hegesippus, einer sehr einflussreichen lateinischen "Übersetzung" des Josephus, befasst sich anschließend Agnès Molinier-Arbo. Sie versteht Pseudo-Hegesippus nicht nur als eigenständigen Autoren, sondern kontextualisiert seinen Bericht auch überzeugend: Im Rom des späten vierten Jahrhunderts sah man den zunehmenden Fokus auf Jerusalem mit Sorge, weshalb römisch-christliche Belange in diese lateinische Fassung erstmals eingearbeitet wurden und römisch-imperiale sehr viel prominenter erscheinen als bei Josephus. Christliche Deutungen dominieren naturgemäß diesen zweiten Teil des Buches, doch die ausführliche Diskussion von Midrasch Bereschit Rabba durch Matthias Morgenstern analysiert nicht nur diesen Text vorbildlich, sondern trägt auch das Wenige zusammen, was sich sonst im rabbinischen Corpus zur Tempelzerstörung findet. Der Band schließt mit der Vorstellung einer mittelalterlichen Tradition, die als Vindicta Salvatoris bekannt, tatsächlich aber häufiger unter anderen Titeln überliefert ist: Titus und Vespasian belagern hier zur Zeit des Kaisers Tiberius ein Jerusalem, in dem sich auch Herodes und Pontius Pilatus finden. Der Drang, Gottes "Rache" an den Juden auf möglichst viele bekannte Übeltäter auszuweiten, führt hier zu fantasievollen historischen Konstrukten, deren unterschiedliche Rezensionen Céline Urlacher-Becht und Rémi Gounelle umsichtig diskutieren.
Ein Schlusswort, das die Fäden zusammenzieht, bietet der Band nicht, doch lassen sich leicht Themen identifizieren, die mehrmals von unterschiedlichen Perspektiven her beleuchtet werden. Da ist etwa die Frage der Endgültigkeit von "Zerstörung", die sich in fast allen Beiträgen stellt: etwa, wenn von den Römern "zerstörte" Städte mit lediglich vermindertem Status fortexistieren (75, Beitrag Chauvot); wenn antike Autoren die Frage kontrovers diskutieren, ob eine Wiedergeburt durch Neugründung der endgültigen Vernichtung vorzuziehen ist (109 f., Beitrag Chapot und Vix); wenn Josephus die Hoffnung zugeschrieben wird, auch die Herrschaft der Römer möge nicht ewig dauern und das Schicksal Jerusalems in der Zukunft noch einmal neu zu verhandeln sein (170 f., Beitrag Bardet); schließlich auch, wenn christliche Autoren gerade dies explizit verneinen und in den Ereignissen von 70 n.Chr. die endgültige Klärung aller sowohl Jerusalem als auch das Judentum an sich betreffenden Fragen sehen (194, Beitrag Hunzinger; 242 f., Beitrag Molinier-Arbo). Für Fragen nach Schuld und Verantwortung ließen sich solche Parallelen ebenfalls leicht herstellen, ebenso für das spezifischere Problem der Beziehung zwischen Zerstörern (Generäle, Armeen) und Ruinen. Vielleicht hätte man sich eine zusammenfassende Behandlung wünschen können, doch dass all diese Verbindungen überhaupt entstehen, spricht für die inhaltliche Kohärenz des Bandes. Dass er zudem sorgfältig redigiert ist und über gute Register verfügt, rundet den sehr positiven Eindruck ab: Das oft kritisierte Format des Sammelbandes zeigt sich hier von seiner besten Seite.
Anmerkungen:
[1] Siehe etwa für die Ereignisgeschichte Steve Mason: A History of the Jewish War. AD 66-74, Cambridge 2016; für die Religionsgeschichte Guy G. Stroumsa: La fin du sacrifice. Les mutations religieuses de l'Antiquité tardive, Paris 2005; für die Folgen Daniel R. Schwartz / Zeev Weiss (eds.): Was 70 CE a Watershed in Jewish History?, Leiden 2012.
[2] Heinz-Martin Döpp: Die Deutung der Zerstörung Jerusalems und des zweiten Tempels im Jahre 70 in den ersten drei Jahrhunderten n.Chr., Tübingen 1998.
Frédéric Chapot: Les récits de la destruction de Jérusalem (70 ap. J.-C.). Contextes, représentations et enjeux, entre Antiquité et Moyen Âge (= Judaïsme ancien et origines du christianisme), Turnhout: Brepols 2020, 403 S., 3 Abb., 6 Tbl., ISBN 978-2-503-58830-8, EUR 85,00
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