Folgt man der Richtlinie der UNESCO, dann zählen die auf der Welterbe-Liste geführten Stätten zum Welterbe "der ganzen Menschheit". [1] Was auf dem Papier eindeutig klingen mag, stellt sich in der Praxis jedoch oft schwierig dar, wenn einzelne Akteure den eigenen Vorrang auf ein Kulturerbe ausdrücken. Ein besonderes Konfliktpotential bietet dies bei spirituell konnotierten Anlagen wie der Hagia Sophia, dem Felsendom oder der Mezquita-Catedral de Córdoba. Nur an wenigen Orten wie Angkor Wat in Kambodscha führten Ansätze in Richtung eines Living Heritage und somit zu einem inklusiveren Umgang (3).
Auch im Umgang mit dem christlichen Erbe Europas herrsche, wie die kanadische Mittelalterarchäologin Roberta Gilchrist moniert, ein eher konservatorisches, primär die Christlichkeit betonendes Verständnis vor. Sie selbst hat sich jahrelang mit Glastonbury Abbey auseinandergesetzt und dabei eine enorme intellektuelle Distanz zwischen den Perspektiven der Mittelalterarchäologie und des Denkmalschutzes festgestellt, die ihrer Ansicht nach lange Zeit nicht produktiv in Bezug auf das sacred heritage miteinander verknüpft wurden. Unter dem Begriff sacred heritage werden diejenigen Orte subsumiert, an denen das "tangible with the intangible" (13) zusammengeführt wird.
Mit ihrem neuen Werk möchte die Autorin nun die Sphären der Mittelalterarchäologie, des Denkmalschutzes und der materiellen Erforschung von Religiosität miteinander in Einklang bringen, wobei sie sich räumlich auf britische und schottische Fallbeispiele stützt, ergänzend jedoch auch irische oder kontinentaleuropäische Fallbeispiele hinzuzieht. Das Buch ist dabei das Resultat einer von ihr im Jahr 2017 gehaltenen Vorlesungsreihe im Rahmen der Rhind Lectures in Edinburgh, deren sechs Vorträge das Buch in konzeptioneller Hinsicht gliedern. [2] Abgerundet wird es durch rund 100 Abbildungen, ein persönliches Vorwort (xv-xvii), ein umfassendes bibliographisches Verzeichnis (219-245) sowie ein Orts- und Personenregister (247-256).
In ihrer umfangreichen theoretischen Hinführung (1-36) bettet Roberta Gilchrist das Thema des sacred heritage in einen globalen Kontext ein und problematisiert zentrale Begriffe wie heritage, value und authenticity. In diesem Zuge legt sie auch ihre Kritik an der Erforschung religiöser Institutionen des christlichen Mittelalters seitens der Mittelalterarchäologie dar. Es liege in der Genese des Fachs begründet, dass die Debatten nach wie vor überwiegend materialistisch geführt würden, weshalb sich die Forschung zumeist um Aspekte der Ökonomie, Technologie, Landwirtschaft oder Architektur drehte. Funde jenseits funktionaler Erklärungsmodelle würden indes oft einem irrationalen Aberglauben zugeordnet und als rituell stigmatisiert. Das Fach habe ebenso wie der Denkmalschutz "failed to reflect critically on the sacred" und somit versäumt "to consider the significance of medieval sacred heritage to contemporary social issues such as identity, conflict, cultural diversity and professional ethics". (1)
Ausgehend von dieser Generalkritik skizziert die Autorin in den folgenden Kapiteln 2 bis 5 ein breites Tableau an materiellen Quellen, die auf die praktische Relevanz von Spiritualität für das Verständnis des und einen ganzheitlichen Umgang mit dem sacred heritage hindeuten. So diskutiert sie die Rolle der Klöster und ihrer Erforschung im Rahmen schottischer Identitätsdiskurse (37-70), in denen der Reformmonastizismus des späten Mittelalters traditionell als negativer Gegenentwurf eines als golden empfundenen, keltisch-eremitischen Zeitalters gesehen wurde, erörtert die vielfältigen Indizien einer mittelalterlichen Krankenversorgung in Hospitälern und Klöstern (71-109), setzt sich mit den materiellen Spuren magischer Praktiken auseinander (110-144) und bildet die vielfältigen Erinnerungspraktiken der Klöster und ihrer Um- und Nachwelt (145-175) ab. Die Autorin stellt in diesen praxisorientierten Kapiteln ein vielfältiges Bündel an spirituellen Alltags- und Erinnerungspraktiken vor, deren Spuren sich in der materiellen Überlieferung erhalten haben oder sich zumindest andeuten. Hierbei begegnen den Leserinnen und Lesern vor allem zwei wiederkehrende Aspekte: So halte die vielfach zu beobachtende rituelle und räumliche Kontinuität des Reformmonastizismus zur Vorzeit vor Augen, wie stark regionale Traditionen, Orte, Praktiken, Baustile oder auch Heiligenkulte auf die spirituelle Praxis einwirkten und somit in einer spezifisch regionalen Ausformung mündeten. Die materielle Überlieferung zeige somit, dass es in einer christlichen Alltagsreligiosität durchaus Raum für Spiritualität und Magie gab, die von Laien und Klerikern innerhalb eines christlichen Weltbildes reinterpretiert worden seien, ohne dabei jedoch als explizit heidnisch wahrgenommen zu werden.
Ihre Ausführungen schließt die Autorin mit einer lesenswerten forschungsgeschichtlichen Erörterung des Spannungsfeldes zwischen Archäologie und Authentizität (176-216) ab. Kenntnisreich greift Roberta Gilchrist hier noch einmal kritisch die Rolle der Archäologie und des Denkmalschutzes auf, deren Vertreter oft selbst keine neutralen, streng der Empirie verschriebenen Akteure waren und sind. Ganz im Gegenteil führt sie anhand von Beispielen wie der Abtei von Glastonbury oder dem schottischen Iona aus, wie sehr die individuellen Biographien zentraler Personen und deren religiöse oder spirituelle Verortung selbst zur Mystifizierung und Wahrnehmung der entsprechenden Erbestätten beigetragen haben.
Mit ihrem anschaulichen und anregenden Buch, das im Open Access auch mit farblichen Abbildungen erhältlich ist [3], ebnet Roberta Gilchrist somit den Weg zu einer stärkeren Verzahnung von Mittelalterarchäologie und Denkmalschutz in Bezug auf das sacred heritage, wobei der Mittelalterarchäologie durch eine dezidiert materielle Erforschung von Religiosität eine zentrale Rolle zukommt. Diese gewähre - so Gilchrist - nicht nur Einblicke in die deep history der jeweiligen Stätten, die sich oft diverser darstellt als es das konservatorische Erscheinungsbild suggeriert, sondern ermögliche zugleich einen unmittelbaren Zugang zur spirituellen und rituellen christlichen Alltagspraxis und könne somit im Gegensatz zum eher orthodoxen Bild der schriftlichen Überlieferung zu einem ganzheitlichen Verständnis von Religion als gelebter Praxis und körperlicher Erfahrung beitragen. Dies mache die Vergangenheit des sacred heritage nicht nur zugänglicher, sondern biete auch den Menschen der Gegenwart die Möglichkeit zur ganz individuellen Erfahrung des Erbes jenseits strikt christlicher Schablonen. Somit könne, wie die Autorin ihre Ausführungen abschließt, eine neue Balance zwischen "the democratisation of heritage" and the "interpretation of empirical archaeology" (216) hergestellt werden, die gerade für Anlagen wie Glastonbury Abbey einen inklusiveren Umgang mit den diversen spirituellen Bewegungen um diesen Ort erlaubt. Und aus diesem könne dann ein wichtiger Impuls für die notwendige Debatte über den Wert des sacred heritage in einer (vorgeblich) säkularen Welt ausgehen.
Anmerkungen:
[1] https://www.unesco.de/sites/default/files/2018-01/UNESCO_WHC_Richtlinien_2015_Amtliche_Uebersetzung_AA_Juni_2017.pdf, § 4. (abgerufen am 4. März 2022).
[2] Abrufbar im Kanal der Society of Antiquaries of Scotland auf YouTube unter https://www.youtube.com/watch?v=bEztakhPiYA&list=PLomxmmDt-nnLq43ugvgt1_34HwLNmq8aV&ab_channel=SocietyofAntiquariesofScotland (abgerufen am 4. März 2022).
[3] https://www.cambridge.org/core/books/sacred-heritage/AEB8A828483A40ED849E005E54407A78 (abgerufen am 4. März 2022).
Roberta Gilchrist: Sacred Heritage. Monastic Archaeology, Identities, Beliefs, Cambridge: Cambridge University Press 2019, xvii + 256 S., ISBN 978-1-108-49654-4
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