2017 dokumentierte Jan Böhmermann in seiner Sendung Neo Magazin Royale die Pläne für ein kühnes Investorenprojekt in Brandenburg: In einem sogenannten "Reichspark" sollten sich Touristen künftig durch eine künstliche nationalsozialistische Kulissenwelt bewegen können. Neben einer Virtual-Reality-Themenfahrt in einer riesigen Kältehalle bei minus 20 Grad durch die Schlacht von Stalingrad sollte bei einer Geisterbahnfahrt ein Bombenangriff hautnah erfahrbar werden. Nach Einbruch der Dämmerung würde dann die Reichspogromnacht nachgestellt werden, und sogar an Übernachtungsmöglichkeiten im Themenhotel "Prinz Albrecht" war gedacht. [1] Zwar handelte es sich bei dieser Dokumentation um einen Fake, aber das Phänomen, auf das sich diese Sendung bezog, ist sehr real: die zunehmende Verwandlung der Erinnerungskultur an den Nationalsozialismus in eine touristische Eventkultur. Gelegentlich verwischen dabei die Grenzen von Authentizität und Fiktion ebenso wie diejenigen zwischen Aufklärung und wohligem Gruseln.
Im selben Jahr, in dem das ZDF die Reichspark-Satire ausstrahlte, veranstalteten Frank Bajohr, Axel Drecoll und John Lennon in Glasgow eine interdisziplinäre Konferenz zum Thema "Dark Tourism Sites related to the Holocaust, the Nazi Past und World War II: Visitation and Practice". Dort trafen sich vor allem Praktiker:innen der NS-Gedenkstättenkultur und loteten den Erkenntniswert des Begriffs des Dark Tourism aus, der in den 1990er im anglo-amerikanischen Wissenschaftsbereich entstanden war. Dieser schillernde Begriff vermischt die besondere Qualität düsterer historischer Orte mit den zumindest oftmals vermuteten Motiven des dort anzutreffenden touristischen Publikums. Zielte Dark Tourism ursprünglich vor allem auf den internationalen Tourismus zu historischen Schlachtfeldern, so wird dieser Begriff in einem aus der Glasgower Konferenz hervorgegangenen Sammelband vor allem auf Orte nationalsozialistischer Gewalt bezogen. Im Mittelpunkt steht dabei die unauflösbare Spannung zwischen einer aufklärerisch gedachten Erinnerungskultur an Orten, die für nationalsozialistische Gewalt stehen, und der Skandalisierung einer damit in Verbindung gebrachten latenten dunklen Lust.
In der Einleitung zu diesem Band knüpfen Frank Bajohr und Axel Drecoll an John Lennon und Malcolm Foley an, die sich intensiv mit der touristischen Anziehungskraft von Tod und Katastrophen beschäftigt und entscheidend zur konzeptionellen Entwicklung der Dark History [2] beigetragen haben. Demzufolge gehe es dabei um "das Mischungsverhältnis aus Gedenken, historisch-politischen Bildungsinteressen, emotionaler Vergegenwärtigung und einer Suche nach historischer Authentizität" (10). Diesen Zusammenhängen widmet sich dieser Band in insgesamt 15 Beiträgen. Der Großteil davon konzentriert sich auf Gedenkstätten am Ort ehemaliger deutscher Konzentrations- und Vernichtungslager und anderen Stätten des Holocaust, überdies thematisieren allein drei Beiträge den Obersalzberg als Ort eines expandierenden Dark Tourism. Wichtige Ergänzungen leisten schließlich Beiträge zum Mussolini-Tourismus in Italien (John Lennon) sowie zu Stätten des Völkermords in Ruanda (Lindsay Scorgie-Porter). Die Beiträge des Bandes lesen sich vielfach wie Versuche von Gedenkstättenmitarbeiterinnen, ihren eigenen Anspruch an historische Aufklärung mit der touristischen Praxis zu vereinbaren. Hinzu kommen weitere Dilemmata: So stößt die Authentizitätserwartung der Besucher:innen auf Tendenzen der Fiktionalisierung, wie es sich besonders eindrucksvoll etwa im polnischen Krakau studieren lässt, wo Touristenscharen durch die Kulissen von Schindlers Liste im Stadtteil Kazimierz strömen, während die unscheinbaren Reste des einstigen jüdischen Ghettos kaum beachtet werden. Und während einerseits das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau den Andrang nur noch durch ein ausgeklügeltes Besuchermanagement bewältigen kann, tauchen viele ehemalige Tatstätten des Holocaust auf der touristischen Karte überhaupt nicht auf.
Eine wichtige Leistung dieser Beiträge liegt darin, dass sie nicht auf der Ebene einer normativen Auseinandersetzung mit den Motiven derjenigen Touristen, die zu nationalsozialistischen Gewaltorten reisen, stehen bleiben. Vielmehr versuchen sie Genaueres darüber herauszubekommen, was diese Touristen bewegt, was sie dort erleben und wie sie schließlich mit dem dort Gesehenen umgehen. Der schwierigen Aufgabe der Rezeptionsforschung nähern sich die Beiträge auf vielen Wegen, die etwa von der Beschäftigung mit der Werbung für touristische Exkursionen zu nationalsozialistischen Mordstätten (Imogen Dalziel) über die Auswertung von Berichten auf Trip Advisor (Anja Ballis) und anderen Online-Medien (Iris Groschek) bis zur Beschäftigung mit der Verarbeitung von Dark Tourism in der israelischen Satire (Liag Steir-Livny) reichen.
Ein wichtiges Ergebnis ist, dass sich der oft beschriebene Übergang des Nationalsozialismus aus dem kommunikativen in das kulturelle Gedächtnis nicht linear vollzieht: Denn einige Beiträge zeigen, dass solche Reisen gerade bei Nachgeborenen das Interesse an der eigenen Familiengeschichte wecken und damit die Gewalterfahrung des Nationalsozialismus in einen intergenerationellen Zusammenhang rücken. Dies scheint im Übrigen gleichermaßen für die Nachkommen von Holocaust-Opfern (Beate Meyer) wie für die Nachfahren deutscher Wehrmachtssoldaten (Wiebke Kolbe) zu gelten, wenngleich diese Erfahrungen in unterschiedlichen touristischen Kontexten stattfinden. So werden hier eher parallele als "multidirektionale" (Michael Rothberg) Erinnerungen beschrieben. Man kann diesen Band somit auch als einen Versuch zur Selbstverständigung einer Gedenkstättenkultur verstehen, die in den letzten Jahren zunehmend in Bedrängnis geraten ist - teils als Folge eigener Zweifel an den Möglichkeiten einer traditionell aufklärerisch gesinnten Gedenkstättenkultur, teils auch als Folge einer Kritik von außen, die aus ganz verschiedenen Richtungen erhoben wird. Vom "Vogelschiss" (Alexander Gauland) bis zum "deutschen Katechismus" (Dirk Moses) umfasst sie höchst gegensätzliche Standpunkte.
Jörg Skribeleit stellt in seinem vorangestellten Beitrag eine grundsätzliche Frage, an dem sich dieser Band insgesamt messen lassen muss: Lässt sich Dark Tourism überhaupt als ein analytisches Konzept begreifen oder taugt dieser Begriff "lediglich als Beschreibungskategorie für sehr unterschiedliche Dinge"(26)? Nach der Lektüre des Bandes hat sich zumindest bei dem Rezensenten der Eindruck eingestellt, dass der Begriff Dark Tourism vor allem heuristisch wertvoll ist: Er erlaubt es, unterschiedliche Phänomene in eine gemeinsame Perspektive zu rücken und sensibilisiert für den Zusammenhang von Tourismus und Erinnerungskultur, ohne dass er selbst einen analytischen Zugang eröffnen würde. Doch muss man den Herausgebern und Autor:innen dieses Bandes großen Respekt zollen: Sie haben die konzeptionelle Tragfähigkeit dieses Konzepts ernsthaft getestet und dazu eine breite Palette von methodischen Zugriffen erprobt, die jenseits vorschneller moralischer Verurteilungen eines erlebnisorientierten Gedenkstättentourismus ein besseres Verständnis dessen erlauben, was Besucher:innen von früheren Stätten von Krieg, Massengewalt und NS-Verfolgung bewegt und was von solchen Besuchen schließlich bleibt. So leistet dieser Band einen wichtigen Beitrag, um nicht nur gegenwärtige, sondern vermutlich auch kommende Entwicklungen des erinnerungskulturellen Umgangs mit historischen Orten massenhafter Gewalt besser verstehen zu können.
Anmerkungen:
[1] Neuer "Reichspark" in Brandenburg? Böhmermann inszeniert Bau eines makaberen NS-Freizeitparks, https://www.parkerlebnis.de/reichspark-inszenierung-reichspark-ns-themenpark-brandenburg_52954.html (Aufruf: 07.04.2022)
[2] John Lennon / Malcolm Foley: Dark tourism. The Attraction of Death and Disaster, new ed. Andover, Hampshire: Cengage Learning 2010 [2007].
Frank Bajohr / Axel Drecoll / John Lennon (Hgg.): Dark Tourism. Reisen zu Stätten von Krieg, Massengewalt und NS-Verfolgung, Berlin: Metropol 2020, 266 S., 37 s/w-Abb., ISBN 978-3-86331-536-8, EUR 24,00
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