Unter "Kurierfreiheit" wird im deutschen Sprachraum allgemein die rechtliche Möglichkeit verstanden, die es jedem unabhängig von seiner Ausbildung und ohne Nachweis einer entsprechenden Approbation gestattet, Kranke zu behandeln. Sie wurde 1869 eingeführt und niemand geringeres als Otto von Bismarck bekundete seinerzeit: "Wem Gott und Natur die Fähigkeit zum Heilen gegeben habe, dem darf sie die Polizei nicht nehmen". (88) Bemerkenswert ist diese Bekundung deshalb, weil sie ein besonderes Verständnis von "krank" bzw. "Krankheit" artikuliert: Im modernen Deutschland, so Black, wurde Krankheit häufig "als eine Art kosmisches Urteil wahrgenommen [...]. Sie spiegelte die gesellschaftliche und die kosmische Ordnung sehr ausdrucksstark wider und konnte Sünden verschiedener Art und unterschiedlichen Ausmaßes offenbaren". (98)
Diesen Zusammenhang nimmt Black zum Anlass, dem kollektiven Seelenhaushalt der deutschen Nachkriegsgesellschaft nachzuspüren. In Anbetracht einer Gesellschaft, die nach 1945 stark von der "Angst vor spiritueller Beschmutzung, tödliche[m] Misstrauen und ein[em] das gesamte Alltagsleben durchdringende[m] Unbehagen" geprägt war (32), schlägt sie vor, die vielfältigen "spukhaften Obsessionen" der Deutschen als Chiffren eines gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses über individuelle Schuld und Verstrickung, Sühne und Reinigung zu lesen, die anzugehen erlaubten, was in der Kultur des selbstverordneten "kollektiven Beschweigens" (Hermann Lübbe) unausgesprochen bleiben musste. So interpretiert, offenbaren sie einen abgründigen wie längst überfälligen Einblick in die emotionalen Dimensionen deutscher "Vergangenheitspolitik". [1]
Historisch belastbare Aussagen über Zusammenhänge zu treffen, die von den Zeitgenossen selbst beschwiegen wurden - und noch dazu analytisch so schwer fassbare Phänomene wie Gefühle - scheint paradox und problematisch. Black nähert sich ihrem Untersuchungsgegenstand jedoch methodisch ebenso umsichtig wie empirisch umfassend. Indem sie populäre zeitgenössische Pressepublikationen, wissenschaftliche und pseudo-wissenschaftliche Pamphlete wie "Hexen unter uns?" oder dem "Sechsten und siebten Buch Moses", Korrespondenzen und eine breite Überlieferung verschiedener Kommunal-, Landes-, Staats- und Zentralarchive auswertet und kombiniert, entwickelt Black eine - wie sie es nennt - "vertikale" und eine "horizontale" Perspektive auf Deutschlands Dämonen der Nachkriegszeit.
Im Mittelpunkt der vertikalen Perspektive steht Bruno Gröning, ein ehemaliger Nationalsozialist und Panzerjäger, der als Wunderheiler und Prediger zeitweilig zu den bekanntesten Persönlichkeiten der jungen Republik aufstieg. Die Rekonstruktion seiner turbulenten Nachkriegskarriere macht etwa zwei Drittel von Blacks Untersuchung aus. Gröning wird dabei als jemand vorgestellt, der "seine größten Erfolge bei der Behandlung chronischer Krankheiten" erzielte, "von denen die Ärzte sagten, dass sie gar nicht existierten". (349) Folgerichtig begreift Black diese Krankheiten als "Symptome", die sie in erster Linie als "Anspielung[en] auf die Erkenntnis eines umfassenden Scheiterns" deutet, nämlich das ansonsten beschwiegene "Wissen darum, dass so viele furchtbare Verbrechen begangen wurden und das diese Verbrechen oft ungesühnt blieben" (ebd.). Im letzten Drittel schließlich entfaltet Black anhand einer insbesondere in ländlichen Gegenden weitverbreiteten Hexenfurcht ihre horizontale Perspektive. "Einen Nachbarn oder eine Nachbarin der Hexerei zu beschuldigen bot ein Ventil für die Äußerung vielfältiger Hass- und Angstgefühle", erkennt sie und erörtert vielfältige Anhaltspunkte und Indizien, die nahelegen, dass "zahlreiche Konflikte durch ungelöste Streitigkeiten geschürt wurden, [...], die noch mit der NS-Ära und der Entnazifizierung verbunden waren". (350)
An anderer Stelle ist bemerkt worden, dass ihre Untersuchung darüber in zwei, mehr oder weniger unverbundene Teile zerfalle, schließlich handle es sich bei Gröning um einen "guten" Heiler, während Hexen "böse" Taten begingen. [2] Tatsächlich dient Black die vertikale Perspektive auch dazu, ein strukturelles, gewissermaßen über-historisches Muster zu identifizieren, das in einem spezifisch-kulturellen Verständnis von "krank"/"Krankheit" wurzelt wie es in der Idee der "Kurierfreiheit" transportiert wird. Black spricht von einem "kulturellen Idiom" (241), welches ihr in vertikaler Perspektive ermöglicht, die zeitgenössische Verehrung Grönings (wie auch die Furcht vor Hexen) als historisch-spezifische, gesellschaftliche Auseinandersetzung um individuelles wie kollektives Seelenheil nach dem "Zivilisationsbruch" (Dan Diner) interpretieren zu können.
Keine Frage: Blacks Deutsche Dämonen ist ein in jeder Hinsicht geistreiches Buch, das sich spannend wie ein Mystery-Thriller liest und dabei mit klugen Einsichten in den Seelenhaushalt einer gekränkten Nation aufwartet. Gleichwohl vermag ihre Thesenbildung nicht immer restlos zu überzeugen. So lässt sich die "Westernisierung", die sie als einen Grund dafür anführt, warum sich die spukhaften Obsessionen der Deutschen schließlich wieder verflüchtigten (311), kaum ohne weiteres auf den Osten des Landes übertragen. Es ist durchaus irreführend, dass im Titel und auch an einigen Stellen im Buch angegeben wird, für das gesamte Nachkriegsdeutschland zu sprechen, dabei bleibt die DDR durchweg außen vor. Den Blick auch auf das "andere" Deutschland zu richten, das sich kaum weniger obsessiv mit der jüngeren Vergangenheit beschäftigte, wäre schon deshalb interessant gewesen, weil er auch Aufschluss darüber versprochen hätte, inwieweit die Hexen und Wunderheiler der Nachkriegszeit Gestalten einer bürgerlichen Gesellschaft waren oder ob sie in der "arbeiterlichen" Gesellschaft der zweiten deutschen Diktatur vergleichbare Geltung entfalten konnten. Aber das ist vermutlich genug Stoff für ein eigenständiges Buch zum Thema.
"Es ist wichtig, besser zu verstehen, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen bestimmte Ideen Glaubwürdigkeit erlangen, oder, umgekehrt, die Erkennbarkeit der Welt und die Glaubhaftigkeit von Wissen infrage gestellt werden", schreibt Black zum Abschluss ihrer Untersuchung. "Wenn eine Gesellschaft einen Bestand allgemein anerkannter Vorstellungen darüber umfasst, wie diese Welt funktioniert - was geschieht dann, wenn die Bedingungen, die einen Konsens ermöglichen, nicht mehr gegeben sind? Kann die Gesellschaft fortbestehen, oder wird sie zerbrechen und auseinanderfallen?" (350) Black hat ihr Buch vor dem Ausbruch der Covid-Pandemie geschrieben - in Anbetracht mancher Debatten, die insbesondere im deutschsprachigen Raum über diese Krankheit geführt werden, bekommen ihre Worte ganz ungewollt einen fast prophetischen Beiklang. Fragt sich nur, von welchen Dämonen "Querdenker", "Corona-Leugner" und "Impfgegner" besessen sind.
Anmerkungen:
[1] Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996.
[2] Burkhard Müller: Monica Blacks Buch "Deutsche Dämonen": Im Bann der Schuld, in: Süddeutsche Zeitung vom 18. Oktober 2021, https://www.sueddeutsche.de/kultur/monica-black-buch-deutsche-daemonen-wunderheiler-hexen-1.5441711 .
Monica Black: Deutsche Dämonen. Hexen, Wunderheiler und die Geister der Vergangenheit im Nachkriegsdeutschland. Aus dem Englischen übersetzt von Werner Roller, Stuttgart: Klett-Cotta 2021, 423 S., 17 s/w-Abb., ISBN 978-3-608-98415-6, EUR 26,00
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