Daniel W. Leon widmet sich in dem zu besprechenden Buch, das zugleich die Dissertation des Verfassers darstellt, dem im 2. Jahrhundert n.Chr. wirkenden Arrian von Nikomedia als historischem Denker. Das Thema ist gut gewählt, handelt es sich bei Arrian doch um einen jener Historiographen der hohen Kaiserzeit, von denen ausgiebig im Zusammenhang mit der Erforschung des Feldzuges Alexanders des Großen Gebrauch gemacht wird, die aber nur selten selbst in den Mittelpunkt einer Untersuchung gestellt werden. Zuletzt rückte Arrian zwar verstärkt in den Fokus der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit, doch stand eine aktuelle Studie zur historiographischen Methode des Autors aus einer dezidiert historischen Sicht bislang aus. [1] Leon gelingt es, diesem Umstand Abhilfe zu verschaffen, und es ist ihm zu wünschen, dass sein Buch auf einen breiten Leserkreis stoßen und so zu weiterer Forschung animieren wird.
Die Studie ist insgesamt recht zugänglich, gliedert sich neben einer Einleitung und einem Fazit in vier Kapitel sowie eine Appendix zur Datierung von Arrians Anabasis und lässt sich durch ihren Umfang von 121 Seiten sowie einen gut gelungen Schreibstil des Autors sehr gut lesen. Nachdem Leon in seiner Einleitung die Forschungsdefizite in der modernen Auseinandersetzung mit Arrian aufgezeigt und seine Annäherung an den antiken Historiographen in dieses Panorama eingebettet hat, beantwortet er in den folgenden vier Kapiteln konzise die von ihm aufgeworfene Fragestellung. So nähert sich Leon dem historischen Denken Arrians in Kapitel 1 zunächst durch eine Einordnung des Autors in den Kontext der sogenannten zweiten Sophistik, innerhalb derer er Arrian von den häufig mit dieser kulturellen Strömung verbundenen Schaurednern abzugrenzen versucht. Kapitel 2 behandelt daraufhin Arrians literarische Agenda, die vor allem durch eine Kombination aus Tradition und Erneuerung zu verstehen sei. Kapitel 3 und 4 widmen sich sodann dezidiert der Anabasis und untersuchen zum einen Arrians Auffassung von Herrschaft am Beispiel seiner Darstellung der Figur Alexanders des Großen. Zum anderen wird an Fällen von Krankheit, Tod und Tugend innerhalb der Anabasis der Beispielcharakter Alexanders für das in Kapitel 3 herausgestellte Bild von Herrschaft weiter prononciert.
Der Wert der Studie liegt vor allem in der Ausformulierung der in Kapitel 2 herausgearbeiteten literarischen Vorgehensweise Arrians und ihrer Anwendung auf das Konzept von Herrschaft innerhalb der Anabasis. So gelangt Leon zu der richtigen Erkenntnis, dass Innovation das bedeutendste Movens für Arrians schriftstellerische Tätigkeit darstellt. Wie für die Autoren der hohen Kaiserzeit üblich orientiert sich Arrian an den kanonischen Vorlagen klassischer Zeit sowie der weiteren literarischen Tradition auf den von ihm gewählten Feldern. Arrian gestaltet seine Schriften indes stets auf eine Weise, die über die Vorlagen hinauszugehen und seinem Leser die aktuell gültigste Fassung von einem Sachverhalt zu präsentieren versucht.
So schreibt Arrian seinen Cynegeticus etwa durchaus in enger Anlehnung an Xenophon. Er präsentiert darüber hinaus jedoch auch Jagdmethoden, die Xenophon noch gar nicht gekannt haben kann und die Arrians Werk dadurch zur unverzichtbaren neuesten Auseinandersetzung mit diesem Thema machen. Eine vergleichbare Einstellung zu seinem Gegenstand wie im Cynegeticus kann Leon sodann auch anhand der Tactica Arrians vorführen, die in bestimmten Punkten die vorherige Tradition maßgeblich verbessern. Arrian wird dadurch zu einem Literaten, der in all seinen Schriften den Rang eines kanonischen Autors anstrebt und für die zukünftige Beschäftigung mit Themen wie der Hundejagd, taktischen Manövern oder eben der Geschichte Alexanders des Großen unerlässlich wird.
In Kapitel 3 und 4 kann Leon diese Programmatik sodann in gut gelungenen Einzelanalysen für die Anabasis aufzeigen. Er stellt heraus, inwiefern Alexander als exemplum eines guten Herrschers verstanden werden kann und wie dabei die Positionen der bisherigen Überlieferung mit römischen Vorstellungen des 2. Jhs. verbunden werden. Arrian bedient sich bekannten Materials wie des Todes des Inders Kalanos oder des Brandes von Persepolis und entwickelt eine neue Perspektive auf diese Themen, die seine Anabasis von der bisherigen Tradition abgrenzen und sogar darüber hinausheben.
Leons Studie hat indes nicht nur Lob verdient. Deutlich zu beklagen ist etwa die bisweilen zu wenig berücksichtigte aktuelle Forschungslage. So stellt er z.B. auf Seite 12 fest, dass die Geschichtsschreibung im Rahmen der zweiten Sophistik bisher von nur sehr wenigen modernen Interpreten behandelt wurde. Grundsätzlich ist dieser Aussage zuzustimmen. Die Zitation von lediglich zwei Monographien aus dem Jahre 1994 und 2014 verkennt den Forschungsstand jedoch allzu sehr. [2] Auch die Auseinandersetzung mit Herodian in Kapitel 1 lässt bedeutende Monographien zu diesem Autor vermissen, deren Berücksichtigung für Leons Argumentationsgang jedoch unverzichtbar gewesen wäre. [3] Zu diesen zwei Beispielen ließen sich zahlreiche weitere hinzufügen. Gerade eine stärkere Berücksichtigung der nicht auf Englisch erschienenen Studien hätte deutlich gemacht, wie sehr die von Leon diskutierten Fragen nach dem Verhältnis von Tradition und Erneuerung bei den Autoren der hohen Kaiserzeit schon längst Eingang in die Forschung gefunden haben. Die von Leon aufgeworfenen Fragen sind insofern zwar sehr gut und wichtig für die weitere Beschäftigung mit Arrian und der kaiserzeitlichen Historiographie. Sie sind aber nicht so innovativ, wie Leon es suggeriert.
Auch inhaltlich sind einige Dinge zu diskutieren. Dass die Historiographen der hohen Kaiserzeit z.B. weniger Notiz von den Sophisten genommen hätten als umgekehrt (20), wird schon durch die von Lukian persiflierten Partherkriegshistoriker widerlegt. Auch dass die Auseinandersetzung mit Tradition und Innovation bei anderen zeitgenössischen Autoren weniger im Fokus stand als bei Arrian (37), wird z.B. durch Lukian entkräftet. Ob Historiographen und Sophisten zudem wirklich deutlich voneinander zu trennen sind und Arrian mit seinen historiographischen Schriften eine Gegenkultur zu den Schaureden der zweiten Sophistik ins Leben ruft, sollte zumindest relativiert werden (113f.). Eher scheint Arrian durch seine literarische Methode nämlich viele Aspekte der kulturellen Strömungen seiner Zeit zu einer Meisterschaft zu bringen, die ihn eher in das Gesamtpanorama einordnet als ihn daraus entfernt.
Im Detail ließen sich weitere Dinge kritisch diskutieren. Es bleibt allerdings der Gesamteindruck einer gut geschriebenen Studie, die wichtige Fragen an Arrian wie auch die Historiographie und Literatur der zweiten Sophistik stellt und damit das Potenzial hat, zu weiterer Forschung auf diesen Gebieten anzuregen.
Anmerkungen:
[1] Siehe z.B. Bogdan Burliga: Arrian's Anabasis. An Intellectual and Cultural Story (Akanthina; 6), Gdansk 2013 oder Vasileios Liotsakis: Alexander the Great in Arrian's Anabasis (Trends in Classics; 78), Berlin / Boston 2019.
[2] Martin Hose: Erneuerung der Vergangenheit. Die Historiker im Imperium Romanum von Florus bis Cassius Dio (BzA; 45), Stuttgart / Leipzig 1994. Adam M. Kemezis: Greek Narratives of the Roman Empire under the Severans. Cassius Dio, Philostratus and Herodian, Cambridge 2014.
[3] Besonders zu nennen Martin Zimmermann: Kaiser und Ereignis. Studien zum Geschichtswerk Herodians (Vestigia; 52), München 1999. Thomas Hidber: Herodians Darstellung der Kaisergeschichte nach Marc Aurel (SBA; 29), Basel 2006.
Daniel W. Leon: Arrian the Historian. Writing the Greek Past in the Roman Empire, Austin: University of Texas Press 2021, XII + 179 S., ISBN 978-1-4773-2186-7, USD 50,00
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