Der Band vereint Beiträge eines Kongresses im Jahre 2016 an der Sorbonne zur Erinnerung an das 500 Jahre zuvor in Basel bei Johannes Froben erschienene Novum instrumentum, die erste Ausgabe des griechisch-lateinischen Neuen Testamentes von Erasmus. Die Herausgeber und Beiträger des Sammelbandes sind sich einig: Die erste gedruckte griechische Ausgabe des Neuen Testamentes mit einer neuen lateinischen Übersetzung und mit kritischen Anmerkungen war ein Schock und von überragender Bedeutung für die christliche Welt Europas.
Zwar, das betonen viele Beiträge, war Erasmus nicht der erste, der kühn die lateinische Übertragung des "heiligen Textes" durch den "heiligen" Kirchenvater Hieronymus bekrittelte. Neben der bekannten Vorarbeit Lorenzo Vallas, die Erasmus 1508 selbst herausgegeben hatte, hatte auch Guillaume Budé auf Fehler in der Vulgata gewiesen, wie Luigi -Alberto Sanchi in seinem Beitrag zu Erasmus und Budé betont, und Jacques Lefèvre d'Étaples hatte bereits 1509 sein Psalterium quintuplex (fünf lateinische Versionen des Psalters) publiziert.
Erasmus' Neues Testament löste sofort eine heftige Polemik aus; scholastische und konservative Theologen waren entsetzt, obwohl das Werk von Papst Leo X. privilegiert worden war. Dieser Band behandelt allerdings nur die Polemik von Alberto Pio. Christine Bénévent setzt sie erstmals in Beziehung zu Franz I., dem Pio, am königlichen Hof wohlgelitten, als Gesandter in Rom diente. Aber auch Erasmus hatte Freunde am Hof und wurde von Franz I. als Gelehrter verehrt; entsprechend dürfte die Kontroverse Franz I. beschäftigt haben, wie Bénévent vorsichtig, aber überzeugend darlegt.
Viele Humanisten begrüßten indessen das zweisprachige Neue Testament begeistert, und trotz späterer Kritik an Erasmus legte Martin Luther den erasmischen Text seinen Auslegungen zugrunde und realisierte bald die dringliche Forderung von Erasmus, das Neue Testament in die Volkssprache zu übersetzen. Schnell folgten ihm andere in verschiedenen Sprachen Europas. Auch dazu betont ein Beitrag, der einzige englische von Jonathan A. Reid unter den sonst ausschließlich französischen Aufsätzen, dass selbstverständlich schon zuvor deutsche Bibelausgaben gedruckt vorlagen und zwei Kamuldalenser Eremiten Erasmus mit einem dringenden Ruf nach Bibeltexten in der Volkssprache zuvorkamen. Die Beiträge hüten sich, Erasmus auf ein Podest zu stellen. So hebt etwa Marie Barral-Baron den bedeutenden Anteil der Mitarbeiter an der Edition des Neuen Testamentes hervor und Gilbert Fournier die Abhängigkeit des Erasmus vom theologischen Wissen des scholastisch gut geschulten Ludwig Bär.
Es galt, so Jean-Marie Le Gall in seiner Conclusion mit Worten von André Godin, sich davor zu hüten, Erasmus hagiographisch als "figure de vitrail" zu beweihräuchern (198) und stattdessen die ganze Komplexität und Flexibilität der Person und des Werkes von Erasmus hervorzuheben. Der 2018 verstorbene große Erasmusforscher André Godin kommt nicht nur als Warner vor einer verfälschenden und für eigene Zwecke vereinnahmenden Erasmusverherrlichung vor. Ihm ist der Band gewidmet und er konnte, schon schwer erkrankt, für diesen Kongress gleichsam sein Testament zu Erasmus schreiben mit seinem Beitrag 'Novum Instrumentum', 'Philosophia Christi': enjeux et mise en œuvre d'un humanisme biblico-patristique. Er versicherte noch einmal kurz vor seinem Tod: Erasmus ist mehr als ein Erneuerer klassischer Literatur; der Bearbeiter des Neuen Testamentes wurde zu einem Bibelhumanisten. Seine philosopha Christi mit ihren menschlichen, allzu menschlichen Aspekten ("aspects humaine, trop humaine") hatte das Ziel, die Christenheit durch das Evangelium neu zu beleben: "D'un ardent amour des lettres, Érasme, cet amoureux des mots, virtuose des bonae litterae politiores, a été, paulatim, 'transformé', 'transfiguré', 'ravi' (autant de termes du vocabulaire mystique, récurrent chez lui) par le désir de Dieu. Simultanément ondoyant et inflexible, il a développé une christologie qui tendait à une réforme de l'Église et de la société." (51)
Diesem Erasmusbild, das in keinem Aufsatz hinterfragt oder weiter ausgeführt wird, ist die ausführliche Einleitung von Thierry Amalou verpflichtet genauso wie die anderen Beiträge. So erklärt Silvana Seidel Menchi in ihrem Beitrag über die verschiedenen Drucke zu Lebzeiten des Erasmus, nur die zweisprachigen Ausgaben und die Annotationen richteten sich an gelehrte Theologen, kleine billige Ausgaben der lateinischen Übersetzung mit entsprechenden Einleitungen waren dagegen für die Laien gedacht, abgesehen von den bald ganz Europa überflutenden Übersetzungen in die Volksprachen, die eine Reform der Christenheit vorantreiben sollten. Malcolm Walsby hat insbesondere die in Frankreich gedruckten Ausgaben detailliert und mit neuen Erkenntnissen untersucht. Die Beiträge geben keine Auskunft darüber, wie diese neue Frömmigkeit - abgesehen von der Bibellektüre - durch Laien gedacht war und auch die inhaltlichen Streitfragen der Polemiken, in die Erasmus verwickelt wurde, werden bestenfalls vage gestreift. Das Buch bietet für die Forschung indessen wertvolle buchgeschichtliche Hinweise.
Die Aufsätze sind von der französischsprachigen Forschung dominiert, was die Beitragenden, aber auch die herangezogene Forschungsliteratur betrifft. Das wird von Alexandre Vanautgaerden in seinem Postface entschärft. Er behandelt auf über 90 Seiten die neuen von 2016 bis 2020 anlässlich der verschiedenen Gedenkfeiern erschienenen Publikationen und die Monographien der Reihe Erasmus studies in ausführlichen und ausgewogenen Analysen. Eine strukturierte Bibliographie und ein Personenregister runden den gelungenen Band ab.
Thierry Amalou / Alexandre Vanautgaerden (eds.): Le Nouveau Testament d'Érasme (1516). Regards sur l'Europe des humanistes, Turnhout: Brepols 2020, XX + 370 S., 19 Farbabb., 7 Tbl., ISBN 978-2-503-59385-2, EUR 65,00
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