In der Frage, was gelungenen Geschichtsunterricht auszeichnet, kreuzen sich zumindest drei Perspektiven: Die der akademischen Didaktik mit ihren normativen Setzungen, jene der Lehrkräfte mit ihren Professionsvorstellungen sowie die der Lernenden mit ihren individuelleren Bedürfnissen. Dass sich diese drei Gruppen in ihren Ansprüchen an "guten" Geschichtsunterricht durchaus unterscheiden, hat der gleichnamige Forschungsstrang deutlich gemacht. [1] Wurden die Qualitätsvorstellungen der universitären Didaktik und der Lehrkräfte in den letzten Jahren mit einigem Nachdruck beforscht, so blieb eine tiefergehende Erkundung der Schüler*innensicht auf Geschichtsunterricht bislang aus. Dies mag verwundern, sollte sich doch ein bloß durchschnittlich beliebtes Schulfach schon aus Gründen der Lernmotivation stärker für die Erwartungen der Lernenden interessieren; und eine Disziplin, welche sich selbst als subjektbezogen betrachtet, sollte doch die Interessen der Lernenden besonders im Blick haben, möchte man meinen.
Isabelle Nientied hat nun in ihrer Dissertation diese "bislang größtenteils marginalisierte Akteursgruppe" (7) umfassend zu Wort kommen lassen. Ihre hier in gedruckter Form vorliegende Arbeit zeichnet sich durch gute Lesbarkeit und Zugänglichkeit aus, wozu die ansprechende Schreibweise ebenso beiträgt wie die nachvollziehbare Strukturierung mit regelmäßig eingezogenen Zwischenfaziten; auch sorgen Diagramme und Tabellen für Anschaulichkeit.
Im Aufbau ist der Band zweckmäßig angelegt. An die Einleitung, welche mit den zentralen Forschungsfragen vertraut macht, schließt zunächst eine Übersicht über den Forschungsstand zur Unterrichtsqualität aus Schüler*innensicht an, bevor ein eigenes Wahrnehmungs- und Beurteilungsmodell von Unterricht entwickelt und das methodische Vorgehen selbst beschrieben wird. Die Ergebnisse der Explorationsstudie sowie der Vertiefungsstudie werden danach in je einem Kapitel dargestellt, im Anschluss daran werden die gesammelten Befunde nochmals systematisiert und in den Forschungsstand eingeordnet. Hieran fügt sich noch ein kurzes Kapitel mit einer Typologie subjektiver Qualitätskonzepte, bevor ein Fazit mit Ausblick den Textteil abschließt.
Den beiden empirischen Studienteilen selbst liegt ein gut durchdachtes Mixed-methods-design zugrunde, in dem strukturentdeckende Verfahrensweisen der multivariaten Statistik vielgestaltig zum Einsatz kommen. Die Forschungsmethodik wird detailliert dargestellt und überzeugend begründet. Als Stichprobe dienten der Autorin zwei Klassen eines Gymnasiums (n=42) am Übergang von der neunten zur zehnten Jahrgangsstufe, die zunächst im Rahmen der Explorationsstudie mittels dreier Fragebögen beforscht wurden. In den ersten beiden Erhebungen sollten die Schüler*innen eine eigene Stunde und eine fremde Videovignette mittels offener Schreibaufträge beurteilen, wobei in der Auswertung vor allem interessierte, welche Qualitätskriterien zeitstabil an beide Stunden angelegt wurden; zudem sollten sie ihre Vorstellungen von gutem Geschichtsunterricht zu Papier bringen. Es folgte ein standardisierter Fragebogen mit 158 geschlossenen Items, auf denen die Befragten ihre Präferenzen zu Unterrichtssituationen, -methoden und -aktivitäten ausdrücken, Lehrer*innenkompetenzen und Unterrichtsziele bewerten sowie Auskunft über ihr Verhältnis zur Geschichte, ihre Vorstellungen und Interessen erteilen sollten. In der Auswertung wurden latente Strukturen in den Daten sichtbar gemacht, in Bezug zu den qualitativen Daten gesetzt und anschließend Cluster konstruiert, in welche sich die Befragten sortieren ließen: Einerseits eine (deutlich größere) Gruppe eher stofforientierter, positivistischer, am Gegenstand wenig interessierter Schüler*innen, andererseits eine Gruppe eher wissenschaftsorientiert-konstruktivistisch denkender, stärker geschichtsinteressierter Schüler*innen. Aus diesen Clustern wurden elf Schüler*innen kriteriengeleitet für die nachfolgende Vertiefungsstudie ausgewählt, bei der die bisherigen Erkenntnisse in problemzentrierten Interviews erhellt und ausdifferenziert werden sollten. Schließlich wurde das entstandene Datenmaterial noch in fünf abgrenzbare Idealtypen subjektiver Qualitätskonzepte verdichtet und das Gewicht von Einflussfaktoren wie Geschlecht oder Interesse herausgearbeitet.
Typenübergreifend überraschen die Ergebnisse kaum. Der Lehrkraft wird allgemein eine Schlüsselrolle für das Gelingen von Unterricht zuerkannt, wobei ihre Kompetenzen zunächst vor allem überfachlich (soziale Wärme, organisatorische Effizienz, Vermittlungsfähigkeit) geschätzt werden und in fachlicher Hinsicht insofern, als sie selbst geschichtskundig sein und ihre Begeisterung für das Fach auf die Lernenden übertragen soll. Die Lehrererzählung steht ebenso hoch im Kurs wie das Geschichtserlebnis durch den Film, kooperative Lernformen sind gefragt, Lese- und Schreibübungen werden dagegen abgelehnt. Personalisierung zeigt sich als Grundbedürfnis, inhaltlich reizen etwa Kriege, Abenteurer*innen, große Entdeckungen und fremde Kulturen, während strukturgeschichtliche Themen kaum verfangen. Hier wie auch in räumlicher, epochaler und geschlechtsspezifischer Hinsicht werden die bekannten Befunde zu Schüler*inneninteressen grosso modo bestätigt. Ernüchternd für Didaktiker*innen im Quellenparadigma mag sein, dass die Lernenden der systematisch-analytischen, multiperspektivischen Auseinandersetzung mit Quellen und Darstellungen kaum Interesse zuwenden, während der Erwerb von historischem Überblickswissen die konsensfähige Zielperspektive für den Unterricht darstellt.
Nientieds Studie ist Grundlagenforschung im besten Sinn und die Autorin hält sich daher mit praktischen Implikationen zurück. Die Typenbildung kann insbesondere im Bereich der empirisch gut abgesicherten Haupttypen durchaus nützlich sein, deutet sich doch an, welche teils unterschiedlichen Angebote Geschichtsunterricht den Gruppen machen kann und soll. Freilich hat die Studie noch den Charakter einer "Probebohrung" (79) und ist hinsichtlich ihrer Generalisierbarkeit mit Vorsicht einzuschätzen - insbesondere mit Blick auf die Stichprobe, die klein und in mehrfacher Hinsicht verzerrt ist. Da nur eine mittlere Altersgruppe zu Wort kommt, finden zudem die evidenten Verschiebungen der Schüler*inneninteressen und -vorstellungen im Entwicklungsverlauf keine Berücksichtigung. Alle Lernenden wurden von derselben, im herrschenden Paradigma geschulten jungen Lehrerin unterrichtet - würden sie andere Ansprüche an Geschichtsunterricht bekunden, wenn sie von einer Lehrkraft mit einem anderem Zugang zum Fach geprägt wären, etwa einem "Storyteller" oder einem "Cosmic Philosopher"? [2] Auch bleibt fraglich, inwiefern sich in den Erhebungsinstrumenten Wünsche nach Empathie, Faszination, Emotion und Ästhetik ausreichend abbilden ließen. Hier bleibt viel Raum für anschließende Forschungen, für die hier aber methodologisch wichtige Vorarbeit geleistet wurde.
Anmerkungen:
[1] Peter Gautschi: Guter Geschichtsunterricht. Grundlagen, Erkenntnisse, Hinweise, Schwalbach am Taunus 2009; Johannes Meyer-Hamme / Holger Thünemann / Meik Zülsdorf-Kersting (Hgg.): Was heißt guter Geschichtsunterricht? Perspektiven im Vergleich, Schwalbach am Taunus 2012.
[2] Ronald Evans: History, Ideology and Social Responsibility, in: Social Science Record 27, Nr. 2, Fall 1990, 11-17.
Isabelle Nientied: Guter Geschichtsunterricht aus Schülersicht. Eine empirische Studie zu subjektiven Qualitätskonzepten und historischem Lehren und Lernen in der Schule, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2021, vii +381 S., ISBN 978-3-643-14967-1
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