Sven Felix Kellerhoff, Historiker und leitender Redakteur für Zeit- und Kulturgeschichte bei der Tageszeitung Die Welt, legt mit dem vorliegenden Buch eine "möglichst detaillierte historische Reportage" vor (191), die den Ablauf des Olympia-Anschlages 1972 schildert. Damals, am 5. September 1972, hatten palästinensische Terroristen elf Sportler der israelischen Olympiamannschaft im olympischen Dorf in München als Geiseln genommen; zwei starben unmittelbar im Zuge der Geiselnahme. Sie wollten mit ihrer Hilfe mehrere hundert Gesinnungsgenossen in Israel und andernorts sowie ein paar deutsche Linksterroristen freipressen. Die Geiselnahme endete in der Nacht vom 5. auf den 6. September auf den Militärflugplatz Fürstenfeldbruck in einer wüsten Schießerei, die bis heute viele Fragen aufwirft.
Kellerhoff legt das Sachbuch als dokumentarische Erzählung an und lässt, das kann an dieser Stelle gleich festgehalten werden, erkennen, dass er in den letzten mehr als zehn Jahren nahezu alle ihm zugänglichen Archive und Dokumente gesichtet hat.
Schon das erste Kapitel "Vorspiel" legt den Finger in eine noch heute schmerzende Wunde: Neben einer kurzen Beschreibung, wie die Spiele nach München kamen, erwähnt Kellerhoff auch einen bewaffneten Raubüberfall in der Münchner Innenstadt am 4. Juni 1971, der gleich die späteren Probleme aufzeigte: Weder gab es Sonderformationen der Polizei für solche Gewaltereignisse, noch war man sich in den Polizeiführungen bewusst, was das bedeuten sollte. Auch bei dieser Geiselnahme wurden am Ende mehr als 200 verschossene Patronen gezählt, ein Geiselnehmer und die Geisel waren tot. Die Spiele von München begannen als heitere, bunte Veranstaltung, die sich von bisherigen olympischen Spielen vielfach abhoben.
Im zweiten Kapitel, "Drama" überschrieben, widmet sich Kellerhoff detailliert der Geiselnahme, die mit dem Überklettern des Zaunes durch die Terroristen zum olympischen Dorf am 5. September in aller Frühe begann und in der folgenden Nacht endete. Minutiös schildert der Autor das Geschehen. Er machte dazu zahlreiche Beteiligte ausfindig, die auf Seiten der Polizei, der Journalisten, des Organisationskomitees der Spiele wie auch der politischen Würdenträger eingebunden waren. Manche Zeitzeugen werden nur abgekürzt erwähnt - offensichtlich leben sie noch. Eine Nachrichtensperre funktionierte nicht, die Absperrung des Tatorts ebenso wenig. Polizisten in Trainingsanzügen waren um das Gebäude herum in Stellung gegangen. Die hektische Suche nach Auswegen begann. Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher bot sich beispielsweise im Austausch für die gefangen genommenen israelischen Sportler als Geisel an. Da Polizeiaufgaben Ländersache waren und sind, übernahm die bayerische Polizei unter dem Münchener Polizeipräsidenten Manfred Schreiber die Einsatzleitung. Frühzeitige Zweifel in Israel, ob "die Deutschen das hinbekommen", führten aber nicht dazu, dass eine israelische Sonderformation in Marsch gesetzt wurde. Hier beendet Kellerhoff lange Zeit umherschwirrenden Gerüchte, dass so etwas erfolgt sein soll. Der ganze Akt der Geiselnahme wurde nahezu in Echtzeit im TV übertragen. Immer wieder konnten sich Interessierte am heimischen Fernsehen ein Bild von der Situation machen. Ein "Sturmkommando" der bayerischen Polizei, unsinnigerweise mit Maschinenpistolen ausgestattet, musste im Laufe des Nachmittags abziehen. Die Darstellung des Autors beschreibt die Hilf- und Planlosigkeit deutscherseits, mit dieser Situation fertig zu werden.
Wir wissen heute, dass nach dem Desaster die Grenzschutzgruppe (GSG) 9 begründet wurde, die seit der gewaltsamen Befreiung der von palästinensischen Terroristen entführten Lufthansa-Maschine "Landshut" im somalischen Mogadischu 1977 einen Ruf wie Donnerhall genießt. Die kompromisslose Art des Vorgehens der GSG 9, bei dem drei von vier Terroristen erschossen wurden, zeigte auf, wie man mit solchen Bedrohungen fertig werden kann. Zahlreiche Beispiele in der Geschichte untermauern, dass Kompromisslosigkeit der einzige Ausweg zu sein scheint. Stichwort: Entebbe.
Bemerkenswert ist, dass Kellerhoff bislang kaum beachtete Quellen heranzieht, wie die der Münchner Staatsanwaltschaft. Dabei bleibt verwunderlich, dass keine Stelle in Polizei, Politik oder Organisationskomitee irgendeine Idee hatte, wie die Spiele zu schützen waren und mit einer Geiselnahme umgegangen werden sollte. Niemand sah sich zu einer nüchternen Lagebeurteilung imstande, beispielsweise mit wie vielen Geiselnehmern man es zu tun hatte - das sollte später das Fiasko verschärfen. Keiner kam auf die Idee, den Ort der Geiselnahme hermetisch abzuriegeln - der ein oder andere mogelte sich rein. Niemand hatte Polizeikräfte identifiziert, die die Geiselnahme hätten beenden können - es gab sie nicht! Die Verantwortlichen hatten offensichtlich nichts aus den terroristischen Gefahren gelernt, die Anfang der 1970er-Jahre allgegenwärtig waren. Dass man damals Handgranaten und Maschinenpistolen oder Sturmgewehre problemlos im Gepäck eines Linienfluges transportieren konnte, lässt den Rezensenten mit Kopfschütteln zurück.
Im letzten Kapitel ("Nachspiel") lässt sich die israelische Reaktion auf den Terroranschlag nachlesen. Der Mossad machte beinahe jeden Beteiligten ausfindig, um diese in einer Art von staatlichem Gegenterrorismus nacheinander zu eliminieren. Dass dabei auch Unschuldige zu Tode kamen, belegt der Lillehammer-Skandal. Herausstechend ist in diesem Kapitel die Frage nach der juristischen Aufarbeitung des Desasters: Israelische Bemühungen, die Verantwortung für den Tod der Sportler zu klären, scheiterten an der deutschen Justiz. Sie definierte nicht das Versagen deutscherseits, sondern den Überfall der Terroristen als ursächlich für alles, was an diesem Tag schiefging. Insofern scheiterten die Angehörigen der Sportler am deutschen Rechtsstaat, der sich so um ein Urteil über das eigene Versagen herumdrückte. Die erst sehr spät errichteten Gedenkorte für diesen Terrorakt wirken deswegen wie ein Placebo der Bundesrepublik Deutschland gegenüber den Hinterbliebenen, die nicht lockerlassen konnten. Als Zeuge der Einweihung des Mahnmals vor dem Fliegerhorst Fürstenfeldbruck in den späten 1990er-Jahren erinnert sich der Rezensent an die phrasenhaften Aussagen sämtlicher Redner, die ein stetes Erinnern beschworen, um daraus ein "wider den Anfängen" abzuleiten. Solche Worthülsen spiegeln Kellerhoffs Anmerkungen zur politischen Verantwortung der Akteure nach dem Desaster wider. Ob ein Rücktritt irgendwelche positiven Folgen ausgelöst hätte, darf freilich bezweifelt werden.
Der Autor legt nicht nur eine dichte, flott erzählte und überzeugende Darstellung vor, die veranschaulicht, wie anhand umfangreicher Quellen (die man aber eben suchen muss) eine fesselnde Geschichte aktenbasiert verfasst werden kann, ohne in methodologischen Diskursen zu versinken. Dank des Buches dürfte der Quellenbestand zum Olympiaanschlag 1972 umfassend ausgewertet sein.
Einziges Manko, wenngleich augenzwinkernd: Dem öfters als herausragendem Rechercheur auftretenden Autor ist natürlich ein kapitaler Fehler unterlaufen, wenn er den Einzug der Mannschaft der Bundesrepublik in frohen Farben erwähnt, dabei aber den blauen Hut zum gelben Kostüm bei den Frauen unterschlägt. Farblich war das schon sehr gewagt. Ebenso erwähnt er nicht, dass die Bigband von Kurt Edelhagen das mehr als 90-minütige Medley von Volksliedern spielte. Für die Generation der Ü50 war das neben James Last wirklich kein Unbekannter. Diese Beckmesserei sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Sie trübt aber nicht das Gesamturteil des Buches: Sehr spannend, sehr lesenswert, sehr wichtig.
Sven Felix Kellerhoff: Anschlag auf Olympia. Was 1972 in München wirklich geschah, Darmstadt: wbg Theiss 2022, 238 S., 2 Kt., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-8062-4420-5, EUR 25,00
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