sehepunkte 22 (2022), Nr. 9

Alberto Cotza: Prove di memoria

Die Studie umfasst mehrere Untersuchungen über die städtische Geschichtsschreibung in der Toskana vom Ende des 11. bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts. Insbesondere analysiert Cotza Texte, die in Pisa, Arezzo und Florenz verfasst wurden. Ausgehend von den neuen Tendenzen zur Erforschung der hochmittelalterlichen Historiographie in Reichsitalien [1] stellt sich die traditionelle vereinheitlichende "kommunale" Kennzeichnung der städtischen Geschichtsschreibung als zu allgemein heraus. Der Autor betont stattdessen die Vielfältigkeit der untersuchten historiographischen Texte: deren Formen, Entstehungszusammenhänge und Überlieferungen. Cotza achtet - sofern dies möglich ist - vor allem auf die sozialen Gruppen, die diese Texte verfassten, zirkulieren ließen, rezipierten und pragmatisch verwendeten. Durch diesen Ansatz entsteht eine kontextualisierende politische Soziologie der Geschichtsschreibung in der hochmittelalterlichen Toskana bis 1250.

Außerdem entwirft Cotza anhand des zentralen Fallbeispiels von Pisa eine Entwicklung der textuellen Produktion, die den Aufbau der gesamten Studie chronologisch strukturiert. Im ersten Teil beschäftigt sich der Verfasser mit der frühen und experimentellen Phase: Wurzeln ("radici"). Von der zweiten Hälfte des 11. bis zum Anfang des 12. Jahrhunderts wurden Texte wie das Chronicon Pisanum, das Carmen in victoria Pisanorum oder in Arezzo die Chronica custodum vor allem von Domkanonikern verfasst. Mittels dieser Texte zielten bestimmte städtische Gruppen darauf ab, sich die Vergangenheit als symbolisches Kapital anzueignen und dadurch ihre hegemonischen Ansprüche auf die Stadt geltend zu machen.

Im zweiten Teil betrachtet Cotza die Phase der Vervielfältigung der Geschichtsschreibung im Lauf der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts: Verzweigungen ("ramificazioni"). Für Pisa kann der Verfasser zunächst die Verbreitung einer bewussten historiographischen Denkweise und Praxis zeigen, die sich auch in den Inschriften oder in einem außerordentlichen enzyklopädischen Werk, dem Liber Guidonis, niederschlägt. Der Liber Guidonis (um 1118-1119) wird im sozialen, politischen und kulturellen Kontext genau verortet. Ausführlich analysiert werden auch die historiographischen Texte, die von der Balearischen Expedition (1113-1115) der Pisaner erzählen: die Gesta Triumphalia und der Liber Maiorichinus. Ausgehend von verschiedenen Aspekten der Darstellung beobachtet Cotza die Konstruktion eines kollektiven Subjekts: die Oberschichten um den Bischof identifizieren sich mit der Stadt und deren neuen Institutionen; darin spielt das kulturelle Modell der romanitas eine wichtige Rolle. Die Autoren - auch in diesem Fall aus dem Milieu der Domkanoniker im Austausch mit den sonstigen städtischen Eliten - zielen darauf ab, die Verdienste der Pisaner im Krieg gegen die Muslime im Mittelmeer hervorzuheben und ihre Interessen vor allem vor den Päpsten und gegen die Genueser zu vertreten.

Im dritten und letzten Teil beschreibt Cotza die Weiterentwicklung der Geschichtsschreibung in Pisa: neue Horizonte ("nuovi orizzonti"). Aufgrund weiterer Transformationen der städtischen Institutionen, die sich vom Bischof emanzipierten, wurden Konsuln und Richter zu Hauptprotagonisten der Geschichtsschreibung. Das zeigt Cotza anhand der kontextualisierenden Analyse der Chronik von Bernardo Maragone und Salem. Die neuen Tendenzen in der Geschichtsschreibung entwickelten sich nicht nur in Pisa, sondern in der rasch aufsteigenden Stadt Florenz weiter, deren Fallbeispiel Cotza im letzten Kapitel des Buches betrachtet. Darin untersucht er die Annales Florentini, die Chronica de origine civitatis Florentie und die Gesta Florentinorum von Sanzanome.

Auch wenn die erst spät verfassten Texte aus Florenz nicht ermöglichen, eine lange Entwicklung wie in Pisa zu beobachten, bestätigen sie für die letzte Phase einen ähnlichen, offenen und experimentierenden Umgang mit der Vergangenheit. Auch diese textuellen Konstruktionen waren "riflesso di un nuovo modo di porsi nell'agone politico, sempre mutevoli, mai fisse: erano prove di memoria" (322), schlussfolgert Cotza.

Eben in dieser abschließenden Überlegung kann man jedoch eine Grenze dieser anregenden und ergebnisreichen Studie feststellen. Die kontextualisierenden Untersuchungen Cotzas verzichten einerseits auf eine explizite Verwendung von theoretischen Leitbegriffen der historischen Kulturwissenschaft [2], um das Geschichtsbewusstsein [3] (auch in seinen nicht-historiographischen Formen des Umgangs mit der Vergangenheit) [4], die sozialen und medialen Formen der Historiographie innerhalb des kulturellen Gedächtnisses [5] und die (politische) Verwendung der Geschichtsschreibung [6] zu beschreiben.

Andererseits stützen sich Cotzas Untersuchungen auf andere, etwas veraltete Begriffe, die teilweise - vor allem in der Synthese seiner Ergebnisse - seinen Fragestellungen, Analysen und Deutungen selbst widersprechen. Die Kategorie der "Intellektuellen" wird zum Beispiel der Komplexität und Vielfalt der damaligen Autoren/Akteuren und deren Milieus nicht gerecht. Die Spezialisten, welche die Texte verfassten, verbreiteten und lasen, als Intellektuelle zu bezeichnen, stellt einen heuristisch nicht zielführenden Anachronismus dar.

Aber vor allem ist der häufig verwendete Begriff Widerspiegelung(en) ("riflesso", "riflessi") problematisch, der sich auf eine alte Konzeption des Verhältnisses zwischen Text und Kontext bzw. Diskurs und Praxis bezieht. Wie Cotzas konkrete Textanalysen selbst zeigen, sind die Texte keine Abbildungen, sondern - in ihren Funktionen und Strukturen - Teil der historischen Praktiken: Nur dadurch und deswegen können wir uns Zugang zu den damaligen Entstehungszusammenhängen sowie zu den sozialen Machtverhältnissen als textuellen Objektivationen schaffen.


Anmerkungen:

[1] Vgl. zum Beispiel die Untersuchungen von Enrico Faini: Enrico Faini: Italica gens. Memoria e immaginario politico dei cavalieri cittadini (secoli XII-XIII), Rom 2018.

[2] Eine Ausnahme stellt der Begriff "elementi metanarrativi" dar.

[3] Hans-Werner Goetz (Hrsg.): Hochmittelalterliches Geschichtsbewußtsein im Spiegel nichthistoriographischer Quellen, Berlin 1998.

[4] Hans-Werner Goetz: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein im hohen Mittelalter, 2. Aufl., Berlin 2008 (Orbis Mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalter, 1).

[5] Vgl. den Begriff "Erinnerungskultur" in: Marc von der Höh: Erinnerungskultur und frühe Kommune. Formen und Funktionen des Umgangs mit der Vergangenheit im hochmittelalterlichen Pisa (1050-1150), Berlin 2006 (Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, 3). Vgl. auch den Begriff Wissensräume: Richard Engl: Eine Stadt ordnet Ihre Erinnerung. Kommuneentwicklung und Wissensräume in Pisa des 12. Jahrhunderts, in: Orte, Ordnungen, Oszillationen: Raumerschaffung durch Wissen und räumliche Struktur von Wissen, hg. von Natalija Aleksandrovna Filatkina / Martin Przybilski, Wiesbaden 2011 (Trierer Beiträge zu den historischen Kulturwissenschaften, 4), S. 1-18.

[6] Vgl. die Begriffe, die Schweppenstette aus der Theorie des kulturellen Gedächtnisses von Jan Assmann ableitet und verwendet: Frank Schweppenstette: Die Politik der Erinnerung. Studien zur Stadtgeschichtsschreibung Genuas im 12. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2003 (Gesellschaft, Kultur und Schrift, 12).

Rezension über:

Alberto Cotza: Prove di memoria. Origini e sviluppi della storiografia nella Toscana medievale (1080-1250 ca.) (= I tempi e le forme; 8), Roma: Carocci editore 2021, 350 S., ISBN 978-88-290-0549-9, EUR 35,00

Rezension von:
Eugenio Riversi
Historisches Seminar, Universität Bonn
Empfohlene Zitierweise:
Eugenio Riversi: Rezension von: Alberto Cotza: Prove di memoria. Origini e sviluppi della storiografia nella Toscana medievale (1080-1250 ca.), Roma: Carocci editore 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 9 [15.09.2022], URL: https://www.sehepunkte.de/2022/09/36157.html


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