Die Erforschung des "Herzstück(es) des kulturellen Gedächtnisses des jüdischen Volkes", der in Rollen überlieferten Tora mit den fünf Bücher Mose, erlebt in den vergangenen Jahren einen beachtlichen Aufschwung. Von Erforschern des so genannten Alten Testamentes lange vernachlässigt, rückt das zentrale Objekt des synagogalen Gottesdienstes somit wieder stärker in den Focus, und es wird dadurch deutlicher, dass Textüberlieferung und rituelle Lesung in einer engen Beziehung zueinanderstehen. "Den" Text der Tora gibt es eigentlich ohne ihre liturgischen Aktualisierungen nicht, sondern er wird im Judentum stets in einer engen Verflechtung von bis heute praktizierter handschriftlicher Vermittlung und mit verschiedenen Melodien vorgetragenem Sprechgesang vermittelt. Nicht zuletzt angeregt durch neuere Untersuchungen mittelalterlicher Tora-Rollen in Italien wie der Bologneser Rolle durch Mauro Perani und motiviert durch genauere Darstellungen individuellen rabbinischer Schriftkultur (u.a. von Jordan S. Penkower), nimmt auch in Deutschland das Verständnis um die Bedeutung der relativ zahlreich in öffentlichen Bibliotheken und Archiven erhaltenen hebräischen Schriftrollen weiter zu. Die hier vorgestellte Untersuchung kann auf die mehrjährige Beschäftigung der Verfasserin mit mittelalterlichen Tora-Rollen, u.a. aus Erfurt (heute in der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz), zurückgreifen und beschreibt erstmals zwei nahezu vollständig erhaltene Tora-Rollen und einige Fragmente sowie mehrere Festtagsrollen (Megillot), die in der Herzog August Bibliothek (HAB) in Wolfenbüttel bislang relativ unbeachtet erhalten geblieben sind.
In einem einleitenden Teil wird die Entwicklung der jüdisch-rabbinischen Schreibkultur skizziert und grundlegende Bestimmungen zur Anfertigung von Tora-Rollen erläutert: Ausgehend von den Schreibhäuten bzw. Pergamenten, auf denen die Rollen angefertigt werden, werden einzelne Fragen der Art und Beschaffenheit koscherer Tinten, des Seitenlayouts und der verwendeten Schrift(zeichen) erklärt und ihre Relevanz im Hinblick auf die vorgestellten Rollen bedacht.
Tora-Rollen
In einem zweiten Abschnitt wird die erste der beiden vollständig erhaltenen Rollen vorgestellt; sie trägt nun, nachdem sie lange unsigniert geblieben war, in der HAB Wolfenbüttel die Signatur Cod. Guelf. 148 Noviss. 2°: Ihre Überlieferung in Magdeburg und ihr Alter (14. Jahrhundert) können als gesichert gelten. Wie das Sefer Tora in nicht-jüdischen Besitz gelangte, ist jedoch nicht überliefert, es werden von der Verfasserin jedoch verschiedene Möglichkeiten anhand zeitgenössischer Belege aus Magdeburg zusammengestellt, die eine gewaltsame Enteignung wahrscheinlich machen. Bemerkenswert sind die zahlreichen hebräischen Sonderbuchstaben, die in dieser gut erhaltenen Rolle Verwendung finden. Ihre symbolische Bedeutung wird erhellend erläutert, wobei zurecht hervorgehoben wird, dass diese Zeichen bereits eine erste oft am rabbinischen Midrasch orientierte Deutung des Textes tradieren. Die Auslegung des Textes der Tora beginnt insofern mit seiner Niederschrift; Text und Auslegung sind eng verbunden. Die in alten Tora-Rollen häufig verwendeten Sonderzeichen wie das Kringel-peh oder Krönchen (Tagin) auf besonders hervorgehobenen Buchstaben trugen dabei mit dazu bei, einen von der Umweltkultur abgegrenzten "Erinnerungsraum" zu schaffen, in dem die Schrift zur Trägerin des kollektiven Gedächtnisses wird (52). Die in der Magdeburger Rolle überlieferten Sonderbuchstaben lassen sich insofern gut mit Ausführungen und Hinweisen zur Vereinheitlichung von Tora-Rollen vergleichen, wie sie etwa von Menachem ben Me'iri aus Perpignan aus dem 13. Jahrhundert überliefert sind. In einem eindrucksvollen Vergleich wird von der Verfasserin gezeigt, dass der in der Magdeburger Rolle noch erkennbare Formenreichtum ab dem 15. Jahrhundert immer weiter zurückgedrängt wurde und im aschkenasischen Raum einer stärkeren Vereinheitlichung wich.
Die zweite große Tora-Rolle in Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 149 Noviss. 2°, ist ebenfalls bereits lange im Besitz der HAB, ohne dass sich ihr Weg in die Sammlung noch genauer rekonstruieren ließe. Bemerkenswert ist, dass diese Rolle von mehreren, und zwar unterschiedlichen Händen angefertigt wurde; ein Teil lässt aschkenasische und der Andere sephardische Schrifttypen und Charakteristika erkennen. Überzeugend erscheint die von der Verfasserin vertretene Analyse, dass die Rolle erst in der HAB oder vorher in Helmstedt, von wo sie überführt wurde, restauriert wurde. Nach ihrer Auffassung ist die Rolle im sephardischen Kulturraum entstanden, wobei dieser jedoch Überschneidungen mit dem Aschkenasischen aufweist, so dass eine genaue Lokalisierung der Herkunft schwierig bleibt. Auch in dieser zusammengesetzten Rolle finden sich zahlreiche Sonderbuchstaben, wobei erneut der Verwendung der peh-lefufa ("gewickelten pe") anhand mehrerer Textbeispiele besondere Beachtung geschenkt wird. So kann das Kringel-peh etwa auf die Anwesenheit Gottes oder die innige Beziehung Gottes zu seinem Volk in einzelnen Versen hindeuten, oder es können durch diesen Sonderbuchstaben doppelte Auslegungsmöglichkeiten angedeutet werden, etwa indem sie als "moralische Ausrufezeichen" fungieren. An einigen der interessanten Beispiele zeigt sich wiederum, wie eng die Ausfertigung und Fixierung des Tora-Textes in die rabbinische Auslegungstradition eingebunden war. Der in der Synagoge laut vorgetragene Text der Tora-Rolle ist an sich bereits ein Teil der Auslegung, und umgekehrt ist die Auslegung Teil der Tora, gewissermaßen wie im Kringel-Peh mit eingewickelt.
Diesen Teil des Bändchens schließen Beschreibungen zweier erst 2020 verzeichneter Tora-Rollen-Fragmente und eines Stückes aus einer Ester-Rolle ab. Diese Tora-Rollenblätter stammen sehr wahrscheinlich aus der jüdischen Gemeinde Wolfenbüttels, die 1938 zerstört worden ist. In der HAB akzessioniert wurden sie erst am 1.11.1939. Daneben gelangten 2004 zwei weitere Tora-Rollenfragmente aus Privatbesitz in die HAB (Cod. Guelf. 159 Noviss. 2°; Cod. Guelf. 160 Noviss. 2°). Auch sie stammen vermutlich aus dem gleichen Kontext und lassen sich aufgrund ihres standardisierten Schriftbildes in das 17./18. Jahrhundert datieren. Tora-Rollen mit vergleichbarer Charakteristik aus diesem Zeitraum sind zahlreich in öffentlichen Sammlungen und Museen in Deutschland erhalten. Sie und weitere Reste von Tora-Rollen könnten in Zukunft vielleicht noch zu einer genaueren Einordnung der Wolfenbüttler Fragmente beitragen.
Festtagsrollen
Ein weiterer Abschnitt des Bandes widmet sich den Festtagsrollen in der Sammlung, wobei die wichtigsten Bestimmungen zur Anfertigung solcher Festtagsrollen vorangestellt sind. Die stark beschädigte großformatige Ester-Rolle, Cod Guelf. 189 Noviss. 2°, stammt aus dem 16./17. Jahrhundert und dürfte aus dem deutschen Raum stammen. Auch diese Rolle kam erst 1939 in die HAB. Die vollständige Ester-Rolle Cod. Guelf. 190 Noviss. 2° kann in das 17./18. Jahrhundert datiert werden. Sie stammt aus der Bibliothek der 1928 geschlossenen Wolfenbüttler Samson-Freischule. Nachdem die Bücher aus dieser Sammlung versteigert worden waren, darunter 600 hebräische Titel, ging die Handschrift in den Besitz der HAB über. Am Ende der Rolle finden sich interessanterweise mehrere mit Bleistift verzeichnete Namen von jüdischen Vorbesitzern aus den Jahren 1874 bis 1885. Ebenfalls zu den unbekannten Residuen der Wolfenbüttler jüdischen Geschichte gehört eine Megillat Shir ha-Shirim (Cod. Guelf. 191 Noviss. 2°) mit dem Hohelied. Die verschnörkelte, ungeübte Schreiberhand, von der diese Rolle angefertigt wurde, könnte einer Frau gehört haben - Frauen durften, so wird betont, zumindest bei der Anfertigung dieser liturgischen, zuweilen im Privaten verwendeten Rollen tätig werden, während Tora-Rollen nur von Männerhand angefertigt als koscher ("geeignet") galten.
Illuminierte Rollen
Das Buch abschließend werden noch zwei bemerkenswerte, illuminierte Rollen des Buches Rut (Cod. Guelf. 192 Noviss. 2°) und Kohelet (Cod. Guelf 193 Noviss. 2°) vorgestellt. Sie sind reich verziert und stammen ebenso aus der Bibliothek der Samson-Schule. Das Bildprogramm der Kupferstiche dieser Rollen bietet interessante Einblicke in die ikonographischen Traditionen der damaligen Zeit. Interessant sind insbesondere die Beobachtungen zu einigen ursprünglichen Kupferstichen, die übermalt wurden. "Die Wolfenbüttler Megillat Kohelet ist [...] auf den Blättern einer für das Buch Ester konzipierten Rolle geschrieben" (98). Offensichtlich wurden solche Rollen in großer Zahl für ein breites Publikum hergestellt. Den Herstellungsprozess der in diesen Rollen verwendeten Stiche analysiert der kenntnisreiche Beitrag von Ad Stijman (Amsterdam). Zur historischen Einordnung der Illuminationen trägt die kenntnisreiche kunsthistorische Einordnung von Dagmara Budzioch bei. Die Wolfenbüttler Esterrolle Cod. Guelf. 193 lässt sich mit mehreren Rollen vergleichen, die von dem christlichen Prager Künstler Philipp Jakob Frank (Anfang des 18. Jahrhundert) verziert wurden. Bildprogramm und die Stilelemente nehmen dabei populäre Ornamentik auf, und für einige Illustrationen lässt sich sogar zeigen, dass ihnen die christliche illuminierte Biblia ectypa von Christoph Weigel (1654-1725) als Vorlage diente.
Ungehobene Schätze
Der Band macht exemplarisch darauf aufmerksam, dass in vielen Archiven, Sammlungen und Bibliotheken in Deutschland noch ungehobene Schätze der jüdischen Schriftkultur schlummern. Vor allem Tora-Rollen sind zahlreich erhalten, ohne dass es dazu bislang einen vollständigen Überblick oder Verzeichnis gäbe. Im Verlauf eines vom Rezensenten durchgeführten Projektes zur Erschließung hebräischer Einbandfragmente in Deutschland konnten so einige bislang nicht verzeichnete Tora-Rollen und Megillot, die teilweise auch recht alt zu sein scheinen, gesichtet werden. Vor diesem Hintergrund ist daher sehr zu begrüßen, dass die Verfasserin nun ein vom BMBF und der Akademie in Mainz gefördertes Projekt beginnen kann, indem diese Desiderate aufgearbeitet werden sollen und somit die Forschung zur Überlieferung jüdischen Schriftgutes auf eine breitere wissenschaftliche Basis gestellt werden kann.
Der Band wird durch ein Literaturverzeichnis, einen Farbabbildungsteil und ein Register der Personen abgerundet. Wie zum Schluss zutreffend hervorgehoben wird, repräsentiert die nun um mehrere Stücke angewachsene Hebraica-Handschriften-Sammlung der HAB ein interessantes Spektrum der jüdischen Schriftkultur. Die hebräischen Handschriften spiegeln nicht nur die kulturgeschichtliche Prägung ihrer Objekte wider, sondern verweisen zudem auf die bemerkenswert zeitenthobene "Arbeit des Himmels", die von den anonymen Schreibern dieser Manuskripte vollendet wurde.
Annett Martini: Zwischen Offenbarung und Kontemplation. Die Wolfenbütteler hebräischen Schriftrollen mit Beiträgen von Ad Stijnman und Dagmara Budzioch (= Wolfenbütteler Forschungen; 163), Wiesbaden: Harrassowitz 2021, 148 S., ISBN 978-3-447-11468-4, EUR 38,00
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