Längst entfaltet der Aufwind deutscher Kolonialgeschichtsschreibung Wirkungen und Austausch in angrenzenden Teilbereichen der Geschichtswissenschaft. Hierzu zählen vor allem die Sozialgeschichte und die Geschichte von Arbeit, aber auch die Architektur-, Wirtschafts- und im besprochenen Fall die Technikgeschichte. Zudem ist eine Hinwendung zu individualisierten, biografischen Zugängen zu Akteuren in kolonialen Kontexten zu beobachten. Insbesondere in Auseinandersetzung mit individueller Agency und einem Bedeutungszuwachs von neuen Quellenzugängen entfalten sich immer mehr Geschichte und Geschichten auch und gerade jenseits prominenter Kolonialagitatoren. Dies geschieht etwa in Form von neuen Ego-Dokumenten und durch die systematischere und breitere Berücksichtigung von Nachlässen. Im Ergebnis rücken Leben und Praxis kolonialer Situationen immer stärker in den Blick. [1]
Einen ähnlichen Zugriff wählt auch die an der Universität St. Gallen eingereichte Dissertationsschrift von Sebastian Beese: Ziel ist die Vermessung des "Feldes der Technik" am Gegenstand der deutschen "Kolonialingenieure". Die Akteurszentrierung erfolgt als methodischer Zugriff auf die titelgebende "deutsche[...] Kolonialtechnik in Afrika und Europa". Im Fokus der Arbeit stehen vornehmlich deutsche, staatliche Ingenieure mit ihrer Eisenbahnbau-Tätigkeit in der Kolonie "Deutsch-Ostafrika", mit einigen Querverweisen und Bezügen zur Kolonie "Deutsch Südwest-Afrika". Als analytischen Zugriff wählt Sebastian Beese den auf Bourdieu zurückgehenden Habitus-Feld-Ansatz, den er zunächst als "Feld der Technik" einführt. Dieses, "in der historischen Forschung nicht neu[e]" Konzept erweitert er jedoch um den spezifisch "kolonialen Bereich im Sinne eines Subfeldes" (41). Dieses Feld wird in zwei anschließenden (weitgehend chronologischen) Kapiteln formeller Kolonisation bis zum Ersten Weltkrieg und kolonialrevisionistischer Fragen bis in die Zeit der Bundesrepublik hinein kartiert.
Ausführlich und anschaulich führt der Autor so zunächst theoretisch-methodisch in das zugrundeliegende "Feld der Technik" (und das koloniale Subfeld) ein, in dem sich die betrachteten Ingenieure in den Kolonien und in der Metropole bewegten (Kapitel 2). Den paradigmatischen Quellenbegriff der "Erschließung" nutzt Sebastian Beese, um "die These einer Erschließung um der Erschließung willen" (77) zu entwickeln, die für das Selbstverständnis und das Handeln der Ingenieure in den Kolonien konstitutiv gewesen sei. Entlang dieser "Ideologie der Erschließung" (Kapitel 3.1) zeichnet die Arbeit im dritten Kapitel ein detailliertes Bild der am Eisenbahnbau beteiligten Ingenieure und ihrer Tätigkeiten im Sinne einer kolonialen Situation mit "Frontiercharakter[...]" (168). Er zeigt, in welcher Weise ökonomisches, kulturelles, soziales und physisches Kapital eingebracht, akkumuliert und umgetauscht wurde. Neben der Einführung in die administrative Abwicklung der Eisenbahnbaustellen stehen Fragen nach physischer Konstitution, Einkommen sowie Hierarchien und Kontrolle im Zentrum des Kapitels. So kann die Untersuchung unter anderem herausarbeiten, dass physisches Kapital der "Tropentauglichkeit" nicht nur Einstellungsvoraussetzung für eine Ingenieurtätigkeit in den Kolonien war, sondern auch über Dauer- und Folgeaufenthalte, Prestigeaufbau und Machtpositionen in ökonomisches Kapital umgewandelt werden konnte. Es zeigt sich in der Gesamtschau, inwiefern die Kolonien, und durchaus gegensätzlich zu formalisierten Karrierewegen im Reich, fluidere Hierarchien und Karrierewege ermöglichten. Nach dieser Erkenntnis waren die Kolonien so keinesfalls ein "Auffangbecken oder Rückzugsort für gescheiterte Existenzen" (5) als vielmehr in Gegenthese ein Ort des Prestigegewinns und des individuellen Aufstiegs. Dabei fokussiert die Arbeit insbesondere auf die Rekonstruktion der (formalen) Rahmenbedingungen kolonialer Karrieren, hinter die die Vermittlung des berufspraktischen Alltags auf den Baustellen selbst eher zurücktritt.
Das deutlich kürzere vierte Kapitel nimmt aktuelle Tendenzen der Forschung auf, koloniale Akteure in Kontinuitätslinien über die Zäsuren formeller Kolonisation hinaus zu betrachten. Erst durch die Betrachtung der individuellen Biografien und Organisationsformen, etwa in der "Arbeitsgemeinschaft für Kolonial- und Tropentechnik", in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg werden Konzept und These der "Kolonialingenieure ex post" (Kapitel 4.1) griffig. Im Fahrwasser des politischen Kolonialrevisionismus reorganisierten sich auch die Ingenieure und brachten ihre Interessen und Hoffnungen auf zukünftige Kolonial(bahn)bauten ein. Spannend ist der Befund, dass die Stärkung der Gruppenidentität in erster Linie durch die fehlende Option einer kolonialen Tätigkeit evoziert wurde, und somit der besondere Status der "Kolonialingenieure" nach ihrem formalen Ende überhaupt erst geschaffen wurde. Die Ausdehnung der praktischen Kolonialerfahrung und ideologischen Adaptionen im Rahmen der NS-Ideologie schließt er dabei explizit aus, "[i]hre Mitarbeit [...] beruhte vielmehr auf geteilten Zielvorstellungen" (281). Die Arbeit schließt mit einem kursorischen Ausblick auf postkoloniale Karrieren bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die quellenbedingt knapp skizziert werden, aber dennoch eine wichtige Ergänzung, auch für zukünftige Forschungen, sind.
Die Stärke der analytischen Stringenz und die konsequente Einhaltung der technikhistorischen Perspektive auf das "Feld der Technik" führt mitunter zu starken "Limitationen" (282) der Arbeit - wie im Fazit auch selbstkritisch reflektiert wird: So schließt Sebastian Beese mit der Untersuchung deutscher "Kolonialingenieure" eine zentrale Forschungslücke, lenkt den (biografischen) Blick auf die Ebene der mittleren Funktionsträger kolonialer Administration und liefert insgesamt einen wichtigen Baustein für die Geschichte des deutschen kolonialen Eisenbahnbaus. Insofern gelingt es der Arbeit, ein differenziertes Bild der deutschen Ingenieure auch über die Zäsur formeller Kolonisation hinweg zu zeichnen und zugleich die "Ideologie der Erschließung" als Teil des Selbstverständnisses der Individuen wie auch des Feldes stärker als bislang bekannt herauszuarbeiten. Zugleich stellt sich bei der Lektüre jedoch wiederholt die Frage, von welchen Interaktionen diese Personen außerhalb des beschriebenen (deutschen) Containers geprägt waren und ob sie sich vielleicht auch zwischen verschiedenen Feldern bewegten? In welcher Weise wirkten "Hierarchie und Ordnung" (Kapitel 3.5) nicht nur zwischen den europäischen Facharbeitern, sondern auch in ihrer Rolle als Vorgesetzte gegenüber afrikanischen (Fach-)Arbeiter:innen auf "koloniale[...] Erfahrungen und Prägungen" (4)? Wie transportierten sie diese Erfahrungen als "Broker" auch zwischen den Kolonialstaaten, zwischen kolonialen Akteuren, zwischen den Bauunternehmen? Für diese und weitere Fragen bietet die Arbeit instruktive Ansätze und eine lesenswerte Grundlage, auf denen folgende Forschungen unbedingt aufbauen sollten.
Anmerkung:
[1] Exemplarisch etwa zuletzt Bettina Brockmeyer: Geteilte Geschichte, geraubte Geschichte. Koloniale Biografien in Ostafrika (1880-1950), Frankfurt am Main 2021.
Sebastian Beese: Experten der Erschließung. Akteure der deutschen Kolonialtechnik in Afrika und Europa 18901943, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2021, VI + 338 S., ISBN 978-3-506-76045-6, EUR 89,00
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