Das Werk des 1898 mit nur 25 Jahren verstorbenen Aubrey Vincent Beardsley war 2020 Thema von drei Veröffentlichungen und einer großen Ausstellung in der Tate Britain. Diese intensive Beschäftigung mit dem britischen Künstler, wie sie sonst nur bei besonderen Jubiläen üblich ist, kann einige neue Ansätze liefern. Eine der Publikationen ist die 2018 eingereichte Dissertation von Lisa Hecht, die 2020 im Böhlau-Verlag als Buch erschienen ist. Das Buch hat mit seinen 17,5 x 24,5 x 2 cm ein handliches Format sowie einen dunkelblauen Hardcovereinband und Buchspiegel. Das Cover zeigt Beardsleys Zeichnung 'The Billet-doux'.
Hecht fokussiert sich auf zwei Themenbereiche, womit sie sich von der gängigen Einzelwerkdeutung absetzt. Zum einen beschäftigt sie sich mit der künstlerischen Selbstverortung und -inszenierung Beardsleys durch die Rezeption der Kunst und Literatur des 18. im späten 19. Jahrhundert, zum anderen geht es der Autorin um eine Neuinterpretation von Beardsleys Werk in Bezug auf die Tendenzen zur Selbstparodie im fin de siècle.
Die Dissertation besteht aus zehn Kapiteln. Einleitend verweist Hecht auf den Zwiespalt in der Wahrnehmung Beardsleys kurz nach seinem Tod: Die einen sahen in ihm den 'William Hogarth seiner Zeit', die anderen definierten Antoine Watteau als einzigen 'pictorial influence' (9) in seinem Werk. Die Autorin nutzt diese Verortung als Einstieg in ihre kunsthistorische Studie, demaskiert sie aber als Versuch, Beardsley rehabilitierend im Kanon der sogenannten Hochkunst zu verorten (9-10).
Hecht weist auf oft reproduzierte Narrative zu Beardsley hin. Sie verwendet, ergänzt und kontextualisiert Linda Gertner Zatlins Werkverzeichnis von 2016 [1] an einigen Stellen. Diese verfolgt zwei Ansätze: erstens versteht sie Beardsley, alten Einschätzungen folgend, als Wegbereiter der Moderne und zweitens sieht sie feministische Ansätze in seinem Werk, die Hecht zufolge jedoch aus Beardsleys Korrespondenz nicht hervorgehen (14). Hechts Streben, Beardsleys Schaffen differenzierter darzustellen, gelingt. Auch greift Hecht, ausgeweitet auf die Buchillustration, die von Linda C. Dowling geforderte Auseinandersetzung mit der Selbstparodie in der Literatur des fin de siècle auf (22).
Im zweiten Kapitel widmet sich die Autorin der Rokoko-Rezeption in Frankreich und England. Zeitgenössische Stimmen aus dem Bereich der literarischen und künstlerischen Dekadenz für dieses Phänomen in Frankreich findet Hecht bei den Gebrüdern Goncourt (17). Im Titel des Kapitels klingt der Susan Sontags Essay Notes on 'camp' [2] entlehnte Begriff der 'Aristokraten des Geschmacks' an. Hecht verweist auf eine Art Kanon der Rokoko-Rezeption, der zum Common Sense wurde und weiterer kunsthistorischer Erforschung bedarf (44). Darauf folgt eine Besprechung der künstlerischen Dekadenz in England im 19. Jahrhundert, die parodistischen und selbstironischen Aspekte hervorhebend und dies in die englische Kunst- und Kulturtheorie einordnend.
Kapitel drei diskutiert Beardsleys, auch von ihm selbst thematisiertes, Verhältnis zum 18. Jahrhundert (79). Hecht beschreibt sein Interesse an dieser Zeit zu verschiedenen Zeitpunkten und ordnet dies in die Eckpunkte seiner Karriere ein. Kapitel vier bespricht die Rokoko-Rezeption im von Beardsley gestalteten Magazin 'The Savoy'. Dabei werden die Bildstrategien dieser gefälligeren Nachfolgeveröffentlichung des Yellow Book offengelegt und deren Deutung hinterfragt. Kapitel fünf handelt von den Text-Bild-Relationen in den Illustrationen zu Alexander Popes 'The Rape of the Lock'. Hecht vergleicht die Darstellungen der Originalausgabe mit jenen Beardsleys und zeigt auf, wie sich der Künstler in der Buchillustration und Kunst des 18. Jahrhunderts verortete. Im sechsten Kapitel gewährt die Autorin Einblick in Beardsleys Adaption einzelner wiederholt auftauchender Motiviken, die sie als typisch für das 18. Jahrhundert identifiziert. Kapitel sieben behandelt die Rezeption von Erotika und Pornographie, wobei Hecht beobachtet, dass Beardsleys Beschäftigung hiermit nur vordergründig das Körperliche anspreche (266). Kapitel acht verortet sein künstlerisches Schaffen in Chinoiserie und Japonismus. Hecht schlägt vor, dass dies für Beardsley alltäglich präsente Kunstformen waren, von denen er sich distanzierte. Seine Rezeption dieser Formen ordnet Hecht einer Wendung gegen die gängige Mode zu (286). Kapitel neun bespricht Beardsleys Einordnung zwischen Rokokorezeption und dem von Susan Sontag umrissenen Begriff des 'camp', auch, weil Sontag in ihrem Essay die Zeichnungen Beardsleys als 'camp' bezeichnete. [3] Zuletzt fasst Hecht die Anschlusspunkte zusammen, die die Verortung Beardsleys in der Nachfolge der Kunst des 18. Jahrhunderts ermöglicht (303). Das abschließende Kapitel bespricht ausblickhaft Künstler, bei denen Hecht aufzeigt, dass sich ein ähnlicher Ansatz wie ihrer für deren Betrachtung lohne.
Hechts Arbeit hebt sich entscheidend von der vorherigen Forschung ab und ergänzt sie. Die beiden anderen Veröffentlichungen von 2020 [4] begleiteten die Tate-Ausstellung, die die erste große Werkschau des Künstlers nach vielen Jahrzehnten war. [5] Marshs Buch hat unterhaltenden Anspruch, indem einer kurzen Einführung eine Besprechung diverser Werke Beardsleys in Kurztexten folgt. Der Ausstellungskatalog der Tate versammelt im ansprechenden schwarzen Stoffeinband Aufsätze zu Beardsley und den seither besprochenen Forschungsthemen sowie einen Katalogteil. Hechts Einschätzung, letzterer lege eine gute Grundlage für die Beschäftigung mit dem Künstler [6], kann zugestimmt werden.
Mit dem Forschungsfeld der Rokokorezeption im späten 19. Jahrhundert reiht sich Hecht in eine noch junge Forschungstradition ein. Die Auflistung an aktuellen Auseinandersetzungen mit dem Thema (20) muss seit 2022 um Ausstellung und Katalog zu Renoir. Rococo Revival. [7] des Frankfurter Städel Museums ergänzt werden, wo einleitend auch Hechts Buch berücksichtigt wurde. [8]
Wenn es etwas gibt, das Hechts Arbeit hinzugefügt werden könnte, wäre dies einerseits die weiterführende Auseinandersetzung mit den bei Beardsley angewandten druckgraphischen Techniken, die in Kapitel fünf angerissen wird (136-137), auch wenn dies aufgrund des anders gelagerten Fokus der Arbeit als Randbemerkung verstanden werden kann. Andererseits fällt auf, dass Hecht für fast alle Werke die Zeichnungen anstatt der Drucke heranzog. Auch wenn bei den Strichhochätzungen nach Beardsleys Zeichnungen nicht viel Interpretationsspielraum bleibt, wäre ein dahingehender kurzer beispielhafter Vergleich geeignet gewesen, dies greifbar zu machen, wie es subtil im Katalog der Tate geschieht. [9] Hechts positive Hervorhebung der Verwendung von Zeichnungen in Gertner Zatlins Werkverzeichnis von 2016 [10] im Gegensatz zum früheren Werkverzeichnis Reades [11], steht allerdings konträr dazu, dass Beardsleys Werk seinerzeit gerade durch Drucke wahrgenommen wurde.
Diese Anmerkungen leisten der hohen Qualität der Veröffentlichung Hechts keinen Abbruch. Sie bietet einen gelungenen neuen Blick auf Beardsleys Werk und Motivwelt und neue Ansatzpunkte für die Beardsley-Forschung, aber auch für andere Forschungen zur Rezeption der Kunst und Literatur des Rokokos. Die Relevanz dessen zeigt auch die Frankfurter Renoir-Ausstellung. Hechts Buch ist eine systematische, kontextualisierende und fundierte Untersuchung der Entwicklungen und Darstellungsmodi in Beardsleys Werk, welches mehr ist als bloß grotesk, verrucht oder verstörend. Das Buch reiht sich ein in die Forschung zur Rezeption des 18. Jahrhunderts durch Künstler des 19. Jahrhunderts. Diese wird die Kunstgeschichte auch in Zukunft noch beschäftigen.
Anmerkungen:
[1] Linda Gertner Zatlin: Aubrey Beardsley. A Catalogue Raisonné, New Haven / London 2016.
[2] Susan Sontag: Anmerkungen zu "Camp", in: Dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, München / Wien 1980, im Original: Notes on "Camp", in: Against Interpretation, New York 1966.
[3] Wie Anm. 2, 271.
[4] Stephen Calloway / Caroline Corbeau-Parsons (eds.): Aubrey Beardsley, London 2020; Jan Marsh: Aubrey Beardsley. Decadence and Desire, London 2020.
[5] Vgl. Lisa Hecht: Rezension zu: Stephen Calloway / Caroline Corbeau-Parsons (eds.): Aubrey Beardsley, London 2020, in: KUNSTFORM 21 (2020), Nr. 9, https://www.arthistoricum.net/kunstform/rezension/ausgabe/2020/9/34880.
[6] Wie Anm. 5.
[7] Der Begriff des Rococo Revival ist ein oft erforschter, vgl. Alexander Eiling: Renoir & das Rococo Revival. Eine Einführung, in: Ders. (Hg.): Renoir. Rococo Revival, Berlin 2022, 20, v.a. Anm. 20, den auch Hecht auf Seite 21 thematisiert.
[8] Vgl. Alexander Eiling: Renoir & das Rococo Revival. Eine Einführung, in: wie Anm. 7, 20, Anm. 25.
[9] Stephen Calloway / Caroline Corbeau-Parsons (eds.): wie Anm. 2, Katalogteil.
[10] Vgl. Lisa Hecht: Rezension zu: Linda Gertner Zatlin: Aubrey Beardsley. A Catalogue Raisonne, New Haven / London 2016, in: KUNSTFORM 18 (2017), Nr. 5, https://www.arthistoricum.net/kunstform/rezension/ausgabe/2017/5/30410.
[11] Brian Reade: Aubrey Beardsley, London 1966.
Lisa Hecht: Aubrey Beardsleys Rezeption des 18. Jahrhunderts als Ausdruck von Selbstinszenierung und (Selbst)parodie (= Bd. 42), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2020, 343 S., 72 Farbabb., ISBN 978-3-412-15177-5, EUR 50,00
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