sehepunkte 22 (2022), Nr. 12

Boris Kayachev: Poems without poets

Studiert man die Titel der literaturwissenschaftlichen Neuerscheinungen, könnte man den Eindruck gewinnen, die Postmoderne sei folgenlos geblieben. Jedenfalls soweit es den am eindringlichsten von Roland Barthes formulierten Befund vom "Tod des Autors" betrifft. Über "Epochen" (auch so ein obsoleter, aber schwer auszumerzender Begriff) wie der Antike, in der besonders viele historisch-biographische Fakten im Dunkeln liegen, schwebt die Autor-Frage von jeher wie ein Damokles-Schwert. Sie schwebt auch über dem vorliegenden Sammelband Poems without Poets. Approaches to Anonymous Ancient Poetry, den Boris Kayachev im Anschluss an eine Dubliner Konferenz des Jahres 2018 herausgegeben und mit einer sorgfältigen Einführung versehen hat.

Seinen einleitenden Bemerkungen stellt Kayachev allerdings eine recht knappe Definition von Anonymität voran: Der Begriff werde in einem nüchtern-technischen Sinne benutzt für den schlicht anmutenden Fall, dass man ein Werk namentlich weder einem Autor noch einem Autorenkollektiv zuordnen kann. Daneben werden zwei Arten von Anonymität unterschieden: eine intentionale oder primäre und eine zufällige oder sekundäre. Begrüßenswert ist die an Tom Geue anschließende Tendenz, Anonymität eher als konstruktiv denn als Mangelerscheinung aufzufassen, wobei der vorliegende Band vor allem ihre historische Bedingtheit und die Kondizionen der jeweiligen philologischen Behandlung ins Auge fasst.

Die Beiträge sind auf drei Sektionen verteilt, denen ein schmaler Index folgt. Die Sektionen widmen sich "collections", "fragments" und "texts". Den Auftakt zum ersten Teil "collections" bildet Alexander E.W. Hall mit Beobachtungen zum "Evolving Arrangement of the Homeric Hymns". Diese Textsammlung steht bis heute im Ruch geheimnisvoller Anonymität, obwohl sie, wie so viele andere herrenlose Texte auch, bereits früh mit Homers Namen assoziiert wurde. Hall bündelt gemeinsame generische Merkmale der verschiedenen Hymnen, um ihre Homogenität als Sammlung zu erweisen.

Im Anschluss widmet sich Jane Lightfoot den Manethoniana, bei denen es sich wohl, ähnlich wie bei den von Hall behandelten Homerischen Hymnen, um das Produkt eines Autoren-bzw. Kompilatoren-Kollektivs handelt. Für die Analyse auktorialer Anonymität springt dabei nicht viel heraus: Die Zuschreibung an den bzw. einen ägyptischen Astrologen namens Manetho (hinter dem sich eben jenes Kollektiv verbergen muss) ist einhellig; darüber hinaus lässt sich kaum mehr sagen, als dass das corpus selbst ägyptisch ist.

Mit Robert Maltbys Beitrag fassen wir einen der beiden antipodischen Texte zum corpus Tibullianum (der andere stammt von Stephen Heyworth). Er begreift das dritte Tibullbuch als Beispiel für die dominierenden Bestrebungen nach homogenisierender Zuordnung bei anonymen Sammlungen. Maltby ist der festen Meinung, dass Tibull 3 aus der Hand eines Autors stamme, der nur mehr seine Masken wechsle. Während der theoretische Zugriff recht vage bleibt, gerät die Arbeit an den Texten überzeugend.

Es folgt der Beitrag von Tristan E. Franklinos zu Catalepton 4 and 11. Sensibel verhandelt Franklinos das menschliche Bedürfnis nach Identifikation und das raffinierte Spiel der Texte mit entsprechenden Angeboten. Im Mittelpunkt steht die Frage nach dem möglichen Verfasser von Cat. 4 und 11: Handelt es sich um M. Octavius Musa aus der Mitte des ersten vorchristlichen Jahrhunderts, einer festen Größe des intellektuellen und kulturellen Lebens? Franklinos misst diesem verführerischen Gedankenspiel selbst wenig Evidenz bei. Ähnlich wie Maltby das CT, betrachtet Franklinos die Sammlung der Appendix Vergiliana mit Ausnahme von 14 und 15 als einen originalen libellus, ein artistisches Ganzes, mit zwei symmetrischen Sammlungen (1-6 und 7-12) und Gedicht 13 als supplementum.

Den Schluss- und Höhepunkt von Sektion 1 bildet der theoretisch avancierte Beitrag von Michael A. Tueller. Tueller wagt einen holistischen Blick auf die Sammlung der Anthologia Graeca, speziell auf die mathematischen Epigramme des Metrodorus, die er als ein eigenwertiges "mathematisches Arbeitsbuch" einordnet. Die bereits zitierte Theorie Roland Barthes' wird angeführt im Kontext der Feststellung, dass anonyme Autoren weniger Aufmerksamkeit erregen als bekannte.

Den zweiten Teil zu den "Fragmenten" eröffnet ein Beitrag von Hannah Čulík-Baird über die Bruchstücke der anonymen lateinischen Verse in Ciceros Werk. Sie hat es sich - in Anknüpfung an einen einschlägigen Versuch von Markus Schauer - zum Ziel gesetzt, eine logische Struktur der von Cicero oft anonym zitierten Dramenfragmente aufzuzeigen; dabei gebe es keine funktionale Differenz zwischen den namentlich zugeordneten und den nicht zugewiesenen Fragmenten. Die Verfasserin betont den performativen Aspekt, demzufolge die Zitate eine auch körperlich erfassbare emotionale Wirkung auf die Leser verzeichnet hätten; womöglich gibt sie deshalb viele längere Zitate weitgehend unkommentiert wieder, damit wir heutigen Leser diesen körperlichen Effekt nachempfinden können?

Auch der folgende Beitrag von P.J. Finglass befasst sich mit dem antiken Drama, jedoch mit anonymen Fragmenten der griechischen, nicht der römischen Tragödie. Dabei hat er vor allem Interpolationen im Blick als "fragments by design". Interpolatoren fallen ja immer wieder durch ihre scheinbare Selbstlosigkeit ins Auge, insofern sie ihre Identität mit dem Autor simulieren um den Preis der eigenen namentlichen Vergessenheit. Finglass arbeitet die kreativen Aspekte dieser Teilhabe heraus und begründet sie unter anderem mit der griechischen Vorliebe für kollektive performative Prozesse. Der Beitrag ähnelt in Anlage und Thesen dem von Čulík-Baird: Er versammelt lange, eher karg kommentierte Zitate, obwohl er gerade dieses Verfahren an den gängigen Kollektionen von Tragikerfragmenten kritisiert.

Mikhail Shumilin rekapituliert die Helena-Episode im zweiten Buch der Aeneis und bemüht sich erkennbar um einen Kompromiss zwischen Befürwortern und Widerstreitern ihrer vergilischen Authentizität. Er selbst hält die Episode für eine Art Lückenfüller, den wir dem Eingreifen des Vergilherausgebers Varius zu danken hätten. Dabei kann er sich auf die Behauptung stützen, es gebe mehr vorbildliche Hypo- und Intertexte außerhalb der Aeneis als bisher angenommen.

Den zweiten Part beschließt Stephen J. Heyworth mit der Untersuchung, ob die Gedichte 3, 19 and 3, 20 aus dem Corpus von Tibull stammten oder als anonym zu gelten hätten. Während sich Maltby für die autorenmäßige Kohärenz des dritten Buches und einen einheitlichen anonymen Verfasser ausgesprochen hatte, betont Heyworth die Fragmentarität der den Rahmen sprengenden Stücke 19 und 20. Immerhin hält er Tibull für ihren Autor, doch seien sie an einem unpassenden Ort gelandet. Als ihren 'eigentlichen' Platz macht er das Ende des zweiten Buches aus, wo sie Teil einer (verloren geglaubten) Schlusssequenz gewesen sein könnten.

Im kürzesten, letzten Teil des Bandes werden die Sammlungen grundsätzlich als einheitliche Gesamtkunstwerke betrachtet. Matthew Hosty widmet sich der "Batrachomyomachia and its Absent Author". Er nimmt Textüberlieferung wie Editionspraktiken ins Visier und kommt zu der erstaunlichen Feststellung, dass trotz mittelalterlicher Beliebtheit und zahlreicher überlieferter Manuskripte nicht von einer verlässlichen Überlieferung die Rede sein kann. Hosty führt das auf die Anonymität selbst zurück. Der Beitrag befasst sich primär mit einigen byzantinischen Arbeiten am Text und erörtert das Phänomen von assoziierter (statt authentischer) Autorschaft mit seinem Einfluss auf Gestalt und Überlieferung des Textes.

Als Vorletzter wirft der Herausgeber Boris Kayachev seinen Hut in den Ring: "Conjectural Emendation in the Appendix Vergiliana: The Case of the Moretum". In den Ausgaben aus dem 19. Jahrhundert überwiege im Umgang mit der Appendix der "exzessiv konservative" Zugang, wie Kayachev am Beispiel des Kräuterkäsegedichts Moretum zeigt. Auch hier stehen Sammlungscharakter und Anonymität in einem eher kontraproduktiven Verhältnis. Kayachev versucht dem mit der Behebung einiger handfester textkritischer Probleme entgegenzuwirken.

Der Band schließt mit einem Star der Zunft: Richard Hunter breitet einige grundsätzliche poetologische Überlegungen zu griechischen Inschriften aus. Er beobachtet hinsichtlich Autorschaft, Medium und Publikum markante Unterschiede zwischen Inschriften und anderen Textsammlungen. Die Anonymität der Mehrheit der griechischen Versinschriften gereiche diesen durchaus nicht zum Schutze: Auch Hunter sieht Texte besonders dort gefährdet, wo die Autorität eines Namens im Hintergrund fehlt. Dabei ist er bemüht, legitime Kriterien für solche Inschriften und ihre philologische Bearbeitung zu etablieren; doch fällt schon die zeitliche Einordung oft schwer.

Fazit: Der Band vereint viele interessante Einzelbeobachtungen und führt einige grundlegende Thesen zum Thema Anonymität an, bleibt jedoch eine umfassende, kohärente theoretische Herangehensweise schuldig. Die wäre allerdings auch für die philologischen Erschließungsversuche wegweisend gewesen - und mit "wegweisend" und "kohärent" meine ich hier durchaus keine methodische Vereinseitigung. Die gebotene Vielfalt bleibt hochwillkommen, solange sie nicht in bequeme Beliebigkeit ausartet. Das scheint mir in dem ambitionierten Band jedoch bisweilen der Fall zu sein: Was nicht passt, wird nachträglich passend gemacht, indem es mit einem Sätzchen (v)erklärt und als Ausweis methodischer Diversität gepriesen wird.

Rezension über:

Boris Kayachev: Poems without poets. Approaches to anonymous ancient poetry (= Cambridge Classical Journal Supplements; Vol. 43), Cambridge: Cambridge Philological Society 2021, VII + 232 S., ISBN 978-1-913701-40-6, GBP 60,00

Rezension von:
Melanie Möller
Freie Universität, Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Melanie Möller: Rezension von: Boris Kayachev: Poems without poets. Approaches to anonymous ancient poetry, Cambridge: Cambridge Philological Society 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 12 [15.12.2022], URL: https://www.sehepunkte.de/2022/12/35910.html


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