In der Literaturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts stehen wir immer wieder vor der Aufgabe, die national kategorisierten Entwicklungen und Konflikte zwar zu beschreiben und zu analysieren, uns dabei aber nicht von der nationalen Logik des Wahrnehmens von Literatur und Kultur usurpieren zu lassen, sondern diese auch wissenschaftsgeschichtlich zu entschleiern. Das versucht auch die Reihe Intellektuelles Prag im 19. und 20. Jahrhundert, die zum Großteil aus Bänden besteht, die sich einzelnen Persönlichkeiten des Prager intellektuellen Lebens widmen, etwa Peter Lotar, Otokar Fischer, Bernard Bolzano, Franz Kafka, Johannes Urzidil, Vilém Flusser oder Fritz Mauthner. Der hier vorgestellte Sammelband, herausgegeben von Helena Březinová, Steffen Höhne und Václav Petrbok, dessen Beiträge auf eine Tagung im Jahre 2017 zurückgehen, stellt eine weitere Persönlichkeit an deren Seite: den längere Zeit wenig beachteten Prager Germanisten, Skandinavienforscher, Autoren und Publizisten Arnošt Vilém Kraus.
Vor der genannten Tagung war bereits ein ebenfalls Kraus gewidmeter und von Petrbok herausgegebenen Band erschienen. [1] So kann man den neuen, deutschsprachigen Band als eine Erweiterung der Aufmerksamkeit für Kraus betrachten: Statt das Augenmerk nur auf die Anfänge der tschechischsprachigen Germanistik zu legen, wird Kraus hier aus mehreren Perspektiven vorgestellt, auch wenn er in professioneller Hinsicht vor allem in der Germanistik zu verorten ist. Kraus wurde 1883, kurz nach der Teilung der Prager Universität, an der deutschen Germanistik promoviert, 1884 arbeitete er dann bereits an der tschechischen Germanistik als Lektor für deutsche Sprache und Literatur, später als Professor. Er verfasste eine der meistrezipierten Geschichten der deutschen Literatur in tschechischer Sprache. Auch die Anfänge der Skandinavistik in Prag sind mit seinem Namen verbunden. Von seinem intellektuellen Interesse für den Norden handeln drei längere und drei kürzere Beiträge. Zudem stellt Ludger Udolph Kraus als Autor von Puppenspielen vor, Olga Mojžíšová führt ihn als Hobby-Musikwissenschaftler ein, und Lenka Vodrážková beleuchtet seine Lebensgeschichte und einige seiner Beiträge in Bezug auf das Judentum. Kraus war zum Christentum konvertiert, wurde aber durch die Nationalsozialisten antisemitisch verfolgt und starb 1943 in Theresienstadt.
Der Band ist aufgrund der Verschiedenartigkeit dieser Aspekte ein wichtiger Forschungsbeitrag: Hier wird Kraus in der Breite seines Schaffens und erstmals in einem deutschsprachigen Kontext derart ausführlich präsentiert. Die Beiträge weisen, obgleich sie thematisch so unterschiedlich gelagert sind, an vielen Stellen darauf hin, dass sein Werk noch Fragen offenlässt, die weiter erforscht und analysiert werden müssen. Gerade in Bezug auf die Frage, inwiefern Kraus sich dem nationalen Narrativ widersetzt hat und inwiefern er doch in ihm verblieb, ergibt sich ein paradoxes Bild.
Auf der einen Seite war Kraus ein Intellektueller, der sich einem engen nationalen Denken widersetzte. So hebt Petrbok hervor, dass Kraus sich bemüht habe, die wechselseitigen Kulturtransfers zu erforschen - 56 Jahre lang in mehr als 30 Zeitungen und Zeitschriften in tschechischer, deutscher, dänischer, schwedischer und englischer Sprache (54). Mit seinen Forschungen und Interessen habe er sich dabei oft den gängigen Rezeptionsmustern entzogen - im Sozialismus störten seine Masaryk-Sympathien, im katholischen Exil sein wissenschaftliches Interesse für das Hussitentum, generell eckte aus tschechischer Sicht seine Sympathie für die deutsche Kultur an. Höhne erwähnt die Verflechtungsstudien des Germanisten Kraus und analysiert seine deutliche Kritik an der nationalistischen Konstruktion eines angeblichen Erwachens der Sudetendeutschen (1926) durch den Historiker Josef Pfitzner, der später nationalsozialistischer Politiker im Protektorat Böhmen und Mähren war. Höhne stellt fest, dass die tschechische Germanistik - im Gegensatz zur Prager deutschen Germanistik - kulturelle Spezifika unter dem Aspekt der wechselseitigen Beeinflussung zwischen Tschechen und Deutschböhmen untersucht habe. (28) Václav Smyčka argumentiert bezüglich der literaturhistorischen Werke von Kraus, dieser habe methodologisch einen "ironischen" Zugang zur identitätsstiftenden Funktion der Geschichtsnarrative verfolgt (38). Seine Konzeption sei von Diskontinuitäten gekennzeichnet - damit eher "Antigeschichte" (44) - und nicht eben für nationale Identitätskonstruktion und Mythenbildung geeignet. Lucie Merhautová, die Kraus' Arbeit als Redakteur der Zeitschrift Čechische Revue beleuchtet, stellt drei unterschiedliche Vermittlungskonzepte vor: bei Kraus durch die kleinen Sprachen bzw. "kleinen Völker", die sich untereinander verbinden sollten, bei Camill Hoffmann durch das ästhetische Moment, das die Möglichkeit eröffnen sollte, über den böhmischen Kontext hinauszugehen, und bei Emil Saudek durch eine räumliche Umorientierung, in der Wien als Brücke für die tschechische Literatur dienen sollte (110). Alle drei Schriftsteller hätten die Binarität durch etwas "Drittes" überschreiten wollen. Dass Kraus zudem "Begründer der Prager Skandinavistik" (169) gewesen sei, wie Martin Liška darlegt, ist ebenfalls ein Aspekt der Vermittlung. Auch Peter Bugge, Jana Lainto und Miluše Juříčková behandeln in ihren Beiträgen Kraus' "Blick nach Norden" (255), und Kraus wird als engagierter Kulturvermittler präsentiert, der sich durch sein Interesse für Dänemark, Schweden und Norwegen und seine Aufenthalte dort gleichsam den umfassenden Blick und die Fähigkeit erhalten habe, europäische Entwicklungen allgemeiner und außerhalb der deutsch-tschechischen Konflikte zu begreifen.
Auf der anderen Seite weisen die Autorinnen und Autoren auf die Teile seines Werkes hin, die dem nationalen Muster entsprechen. Březinovás Analyse nimmt etwa Kraus' stereotype Deutschlandbilder näher in den Blick. In mancher Hinsicht wurden diese von Dänemark beeinflusst beziehungsweise durch den dänischen Philosophen Georg Brandes, von dem Kraus einige polemische und auch negative Urteile über Deutschland oder die deutsche Sprache schlicht übernommen hat. Bisweilen nutzte Kraus seine Texte über Dänemark, um Kritik an der deutschböhmischen Perspektive zu formulieren, laut Březinová baut er damit zwischen dem Tschechischen und dem Dänischen "eine Brücke, von der man auf Deutschland herabsieht" (197). Smyčka wiederum argumentiert in seinem Beitrag, dass die gemeinsame tschechisch-deutsche Epoche der Aufklärung in Kraus' Verständnis ein "Ur-Erwachen" dargestellt habe, (47) aus dem heraus sich die beiden Stränge - der deutsche und der tschechische - herausgebildet hätten. Die Aufklärung sei in diesem Sinne für Kraus' Literaturgeschichte entscheidend, dessen Plot verfüge dabei nicht über die Aspekte eines neuen identitätsstiftenden Narrativs für alle Gruppen. Und so schließt Smyčka seinen Beitrag mit der offenen Frage, ob Kraus die Gelegenheit versäumt habe, den Deutschen in der Tschechoslowakei ein anschlussfähiges Narrativ zu präsentieren, das auch für die tschechische Mehrheit akzeptabel gewesen wäre (50). Michal Topor beschreibt eine polemische Auseinandersetzung zwischen dem Journalisten Paul Kisch und Kraus, in der sich germanistische Debatten, konkret zur Hebbel-Rezeption in Tschechien, mit politisch-nationalen Fragen vermischten. Und schon Höhne bemerkt im ersten Beitrag des Bandes, dass Kraus die deutschböhmischen Einflüsse innerhalb der tschechischen nationalen Wiedergeburt relativierte, trotz der andernorts verflechtenden Perspektive seiner Forschung. In seinem Fazit formuliert Höhne, dass letztendlich beide Prager Germanistiken in einer literaturgeschichtlichen Tradition festgesteckt sowie die Literatur zum Medium und Katalysator nationaler Identität instrumentalisiert hätten und dass auch Kraus einem Freund-Feind-Schema verhaftet gewesen sei und "ein asynchrones Modell von Wiedergeburt" angewendet habe (28).
So lässt sich auch weiterhin gut über die Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten in der multiplen Prager intellektuellen Landschaft diskutieren. Aber auch das Thema "Übersetzung" hätte gesondert aufgegriffen werden sollen. Es ist erstaunlich, dass hierzu kein Beitrag Eingang gefunden hat, auch wenn natürlich bei einem solchen Band kein Anspruch auf Vollständigkeit bestehen kann. Wir erfahren jedoch im Text von Vodrážková, dass beide (!) Kinder von Kraus beruflich übersetzten, Milada als "Dolmetscherin und Übersetzerin aus den skandinavischen Sprachen" und Jiří "als Rechtsanwalt und Gerichtsdolmetscher für Dänisch und Norwegisch" (123). Bei Juříčková heißt es, dass Kraus selbst umfangreich literarisch aus dem Norwegischen übersetzt und offenbar darüber hinaus auch Übersetzungsaufgaben an seine Tochter delegiert habe.
Erwähnenswert ist noch der ansprechend gestaltete Anhang, bestehend aus einer Auswahlbibliografie von Kraus' Schriften und einer Zusammenstellung von Abbildungen und Briefen, ausgewählt sowie jeweils kontextualisiert und erläutert von Petrbok und Březinová. So ist dieses Buch für jede weitere Beschäftigung mit Kraus' Leben und Werk ein sehr schöner Ausgangspunkt.
Anmerkung:
[1] Václav Petrbok (Hgg.): Arnošt Vilém Kraus (1859-1943) a počátky české germanobohemistiky [Arnošt Vilém Kraus (1859-1943) und die Anfänge der tschechischen Germanobohemistik], Praha 2015.
Helena Březinová / Steffen Höhne / Václav Petrbok (Hgg.): Arnot Vilém Kraus (18591943). Wissenschaftler und Kulturpolitiker (= Intellektuelles Prag im 19. und 20. Jahrhundert; Bd. 18), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2021, 321 S., ISBN 978-3-412-52144-8, EUR 50,00
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