Das Großprojekt "Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945" (VEJ) ist 2021 um einen Band zur Judenverfolgung und zum Holocaust in Ungarn erweitert worden. Die neue Publikation wurde von Regina Fritz zusammengestellt und bietet einen tiefen Einblick in das finsterste, und teils verschwiegene, Kapitel der Geschichte Ungarns. Fritz ist eine international renommierte Wissenschaftlerin der Universität Bern, die zahlreiche wichtige Studien zur ungarischen und österreichischen Zeitgeschichte, zum Nationalsozialismus und zur Geschichtspolitik und Erinnerungskultur veröffentlicht hat.
In Form und Struktur entspricht der Einzelband dem üblichen Muster der Reihe: Einer Einleitung mit Informationen zur Auswahl und Bearbeitung der Quellen sowie einer historischen Kontextualisierung folgen auf etwa 700 Seiten die Quellen, die zum besseren Verständnis mit einem ausgiebigen Fußnotenapparat und ferner mit diversen Verzeichnissen, Orts- und Personenregistern versehen sind.
Die Einleitung mit dem historischen Hintergrund führt die Leser:innen gründlich in die Problematik ein. Fritz stellt die viel zu oft vergessene Geschichte des ungarischen Antisemitismus seit dem Mittelalter vor, legt besonderes Gewicht auf die Neuzeit, das 19. Jahrhundert (als im Königreich Ungarn eine antisemitische Partei gegründet wurde) und die Folgejahre des Ersten Weltkriegs, als sich die zuvor konfessionelle Judenfeindlichkeit in Ungarn grundsätzlich veränderte und eine Epoche des politisch-rassistischen Antisemitismus begann. Dieser Umstand ist umso wichtiger, als in der ungarischen Historiografie bis heute Tendenzen zu finden sind, die den Holocaust ausschließlich auf deutsche Einflüsse zurückführen und die ungarische Beteiligung ausklammern. Fritz betont in ihrer Einleitung jedoch die langfristige Entwicklung des ungarischen Antisemitismus, die eine grundlegende Voraussetzung für die Ermordung der ungarischen Juden gebildet habe.
Etwas verwirrend ist der zeitliche Rahmen, auch wenn dieser der Konzeption der Reihe entspricht: Der Titel lautet "Ungarn 1944-1945", was darauf hindeuten könnte, dass die Judenverfolgung in Ungarn erst nach der deutschen Besatzung vom 19. März 1944 begonnen habe. Damit wäre gewissen Kreisen in Ungarn die Möglichkeit gegeben, die eigene Rolle in den fatalen Entwicklungen auszublenden, was jedoch im Band keineswegs seine Entsprechung fände. Andererseits schildert Fritz in der Einleitung die jahrhundertelange Entwicklung des ungarischen Antisemitismus, dadurch wird die Vorgeschichte deutlich, auch wenn Fritz in dieser Reihe nicht die Möglichkeit hatte, bei der Quellenauswahl diese Vorgänge auch zu betonen. Das erste Dokument stammt aus dem Jahr 1937, das in diesem Kontext nur bescheidene Bedeutung hat. Eine Erweiterung bis zurück zum "Numerus Clausus"-Gesetz von 1920 und eine Darstellung der antijüdischen Ausschreitungen während der 1920er Jahre hätten den Umstand, dass die Judenfeindlichkeit in Ungarn bereits im Jahrzehnt vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland des Öfteren ein gewaltiges Ausmaß erreicht hatte, in angemessener Weise verdeutlicht. Wegen des ohnehin beachtlichen Bandumfangs ist es jedoch verständlich, dass auf die Darstellung dieser längerfristigen Entwicklungen verzichtet wurde.
Eine weitere Schwierigkeit bestand in der Festlegung des geografischen Rahmens: Das Staatsterritorium Ungarns erweiterte sich während der Epoche mehrmals, und auf den von Jugoslawien, Rumänien und der Tschechoslowakei annektierten (oder in ungarischer Terminologie: zurückgewonnenen) Gebieten lebten zahlreiche Juden, die dadurch ebenfalls dem ungarischen Holocaust zum Opfer fielen. Ihre Geschichten wurden jedoch bereits in anderen Bänden der Reihe behandelt, der vorliegende Band enthält trotzdem auch Quellen zu den Massakern in Kamenez-Podolski 1941 und in der Batschka 1942, wo auch Ungarn als Täter beteiligt waren. Die aufgrund der Grenzmodifizierungen komplizierte Konstellation ist auch kartografisch dargestellt, eine weitere Karte zeigt Ungarn im Zweiten Weltkrieg.
Die Auswahl der Quellen ist uneingeschränkt zu loben, sie umfasst eine extrem breite Palette: Unter den 317 veröffentlichten Quellen finden sich unter anderem Gesetze, Pressematerialien, Tagebuchbeiträge, private Dokumente, Archivunterlagen aus dem In- und Ausland, Meldungen jüdischer Organe oder Unterlagen der kirchlichen Behörden und der ungarischen Verwaltungsorgane (Letztere sogar aus kleineren Stadtarchiven und Filialen der Komitatsarchive). Die Heranziehung von Unterlagen aus dem ländlichen Ungarn ist deswegen so wichtig, weil die Deportation der Juden im Frühling und Sommer 1944 zuerst in der Provinz durchgeführt wurde. Originalquellen dazu bleiben jedoch leider in der ungarischen Forschung oft ausgeblendet, obwohl sich die Durchführung der Deportationen nur auf Grundlage von Dokumenten der zentralen Staatsorgane in Budapest nicht rekonstruieren lässt. Angesichts der vielschichtigen Thematik ist die für den Band getroffene Auswahl überzeugend, da so viele Facetten wie möglich präsentiert werden.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Reihe VEJ erneut um eine wissenschaftlich hochwertige Quellenedition erweitert wurde, die das deutschsprachige Publikum über Judenverfolgung und Holocaust in Ungarn informiert. Sowohl der einleitende Aufsatz als auch die Quellen sind zum Hochschulunterricht und zur weiteren wissenschaftlichen Nutzung geeignet. Es ist sogar etwas schade, dass im Rahmen des Projekts keine Übersetzungen in die jeweiligen Landessprachen geplant sind - für die ungarische Öffentlichkeit und Forschung wäre dieser Band eine große Bereicherung.
Regina Fritz (Bearb.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. Band 15: Ungarn 1944-1945, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2021, 850 S., ISBN 978-3-11-036502-3, EUR 59,95
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