sehepunkte 23 (2023), Nr. 2

Bernhard Gißibl / Katharina Niederau (Hgg.): Imperiale Weltläufigkeit und ihre Inszenierungen

Der Sammelband zu kolonialen Verflechtungen Mannheims stellt einen Ertrag der langjährigen Beschäftigung der Beteiligten mit diesen Themen dar. In Entstehungsgeschichte, Konzeption und Inhalte des Buches führt Bernhard Gißibl klug abgewogen ein. Den Ausgangspunkt der Überlegungen markiert eine Distanz zwischen der historischen Bekanntheit Theodor Bumillers und dessen weitgehender Vergessenheit in der Gegenwart. In seiner Biografie ließen sich die Verflechtungen mit der kolonialen Welt, die Deutung als "imperiale Weltläufigkeit" sowie zugleich die Unsichtbarmachung bestimmter Elemente des Kolonialismus bündeln, wie Gißibl betont. Die Biografie dient damit als "Sonde" für die Untersuchung der Verflechtungen "Mannheims und der Rhein-Neckar-Region mit dem überseeischen Kolonialismus" (16). Damit ist die Thematik des Kolonialismus vor Ort benannt, zu der Gißibl einen äußerst lesenswerten Forschungsüberblick bietet. Er macht deutlich, dass der Modus des "Hier auch!" (22) geschichtswissenschaftlich kaum ausreicht, sondern die spezifischen Prägungen und Entwicklungen in Anschlag zu bringen sind. So wird der Gefahr begegnet, dass Lokal- und Regionalstudien sonst schlicht zu Variationen einer im Kern national "deutschen" Kolonialgeschichte werden. Der Band sei nicht als "Spurensuche" angelegt, sondern es gehe vielmehr um Vertiefung durch einen dezidiert biographischen Ansatz, der gerade regionalhistorisch viel verspreche. Entwickelt wird ein körperhistorisch und theaterwissenschaftlich inspirierter Zugang: imperiale Weltläufigkeit. Definiert wird diese als "ein aus Opportunitäten und Statusstreben resultierender Habitus der grenzüberschreitenden Mobilität und, damit verbunden, des selbstverständlich erscheinenden, scheinbar vertrauten Umgangs mit dem Fremden" (30).

Konzeptionell voll zum Tragen kommt der Ansatz beim Beitrag Gißibls zum "Kolonialismus im Stile Alt-Heidelbergs", der Bumillers Inszenierungen nachspürt und die lokalen Kontexte stark macht. Bumiller wurde als "skurriles Original" (50) erinnert. Diese vor allem durch die Kolonialbewegung und die Studentenverbindung gepflegte Erinnerung speiste sich aus eben jenen Inszenierungen. Dem "Mythos" (79) stellt Gißibl überzeugend die "imperiale Biographie" (94) entgegen. Mit Recht mahnt er die Notwendigkeit einer kollektivbiographischen Erforschung des deutschen Kolonialismus an, wobei er angesichts seines Falls auf eine mögliche Beziehung zwischen Kolonialkarrieren und Korpsstudententum hinweist. Katharina Niederau untersucht in ihrem Aufsatz die von Bumiller geführten Tagebücher zweier "Wissmann-Expeditionen" (1889, 1891). Quellenkritisch fundiert stellt sie Überlegungen an, die nicht nur Bumillers Tätigkeit in Ostafrika greifbar machen, sondern die Kenntnis des kolonialen Alltags erweitern. Neben der omnipräsenten Gewalt und ihren dramatischen Exzessen zeigt sich auch die partielle Hilflosigkeit und das Angewiesensein auf intermediaries. So wird die agency verschiedener Akteure aus den Quellen zumindest indirekt greifbar. Sehr interessant ist der von Jan Diebold untersuchte Silimu bin Abakari, der "schwarze Diener" Bumillers, der von den Komoren stammte und selbst Reiseberichte hinterließ. Bin Abakari wird als Parallel- bzw. Gegenbild zu Bumiller interpretiert, der "über ein weitaus größeres Repertoire an kosmopolitischen Kompetenzen" (169) verfügt habe. Seine Reiseberichte, die auf Anregung Carl Veltens entstanden, der 1901 eine Sammlung mit Texten in Swahili herausgab und diese zugleich ins Deutsche übersetzte, werden von Diebold überzeugend als eine alternative Darstellung der kolonialen Situation eingeordnet. Iris Edenheiser und Bernhard Gißibl nehmen sich in ihrem Aufsatz der ethnographischen Sammlung Bumillers an, die heute in den Reiss-Engelhorn-Museen zu finden ist. Der Erwerbungskontext wird differenziert dargestellt, dabei ein prinzipieller Gewaltzusammenhang angenommen. Bumiller sammelte unsystematisch und seine Sammlung hat so eher zufälligen Charakter. Der Aufsatz verbindet die Beschäftigung mit den Artefakten und ihren Erwerbskontexten mit der Untersuchung der Inszenierungen ihres Sammlers.

Die drei abschließenden Beiträge lösen sich von Bumiller. Ulrich Nieß und Karen Strobel beschäftigen sich mit dem faszinierenden Leben des aus Surinam stammenden ehemaligen Sklaven Thomas Adrian van Vorden. Sie zeigen die Möglichkeiten 'schwarzer' agency im Deutschland der Mitte des 19. Jahrhunderts. Van Vorden wurde angesehener Bürger Ludwigshafens, heiratete eine Einheimische und konnte seine Töchter standesgemäß verheiraten. Dies wäre fünfzig Jahre später kaum noch möglich gewesen, wie betont wird. Der Beitrag zeigt so den Wert eines historischen Zugriffs, der die Historizität von agency herausarbeitet. Den in Seckenheim geborenen Theodor Seitz nimmt sich Dominik Nagl in seinem Aufsatz vor. Und "vornehmen" ist hier durchaus passend, denn nach der Fülle an Zitaten, die der Autor liefert, bleibt von der vermeintlich "liberalen" Kolonialhaltung Seitz' wenig übrig. Damit kontrastiert Nagl bewusst ein bis vor wenigen Jahren eher affirmatives öffentliches Bild des ehemaligen Gouverneurs von Kamerun und Deutsch-Südwestafrika sowie Vorsitzenden der Deutschen Kolonialgesellschaft. Seitz und seine Positionen werden zugleich sauber in die historischen Kontexte eingeordnet, womit Nagl beweist, dass historische Nuancierung gerade nicht mit einer normativen Relativierung einhergeht. Ebenfalls sehr differenziert ausgefallen ist Marion Jourdans Untersuchung von "Völkerschauen" in Mannheim. Einen Schwerpunkt legt sie dabei auf das "Abbesinier-Dorf" beim Stadtjubiläum 1907. Sie plädiert dezidiert für die Wahrnehmung der agency der Darsteller:innen der Völkerschauen. So treten diese aus dem Schatten des Objektstatus - ob als "Typus", "Gruppe" oder "Opfer" - und werden als historische Subjekte sichtbar gemacht, die zwar innerhalb eines rassistischen Systems agierten, darin aber ihre Handlungsräume suchten und nutzten.

Insgesamt liegt ein sehr gelungener Sammelband vor, auch wenn er beim ersten Blick den Eindruck einer monographischen Studie zu Theodor Bumiller mit einigen flankierenden Aufsätzen machen mag, die teilweise vielleicht etwas gestrafft hätten werden können. Aber die Qualität der Texte ist durchgehend hoch, sie sind sinnvoll auf aktuelle Forschungen bezogen, zeugen von einer intensiven und kritischen Beschäftigung mit den Quellen und interpretieren diese mit Bereitschaft für Ambivalenzen und Nuancen, wodurch wichtige Ergebnisse erzielt werden. Das sind auf der ersten Ebene die handfesten Erkenntnisse zur kolonialen Dimension der Stadt- und Regionalgeschichte. Darüber hinaus ist es die Konzeptionalisierung eines bestimmten Habitus in Form der "imperialen Weltläufigkeit", die den Band vielfach anschlussfähig macht. Hervorzuheben ist ferner die intensive Beschäftigung mit der agency der Kolonisierten. Seien es Silimu bin Abakari, Thomas von Vorden oder "Scheik Essa" - sie alle treten uns als historische Subjekte entgegen. Dem Buch ist eine breite Rezeption zu wünschen.

Rezension über:

Bernhard Gißibl / Katharina Niederau (Hgg.): Imperiale Weltläufigkeit und ihre Inszenierungen. Theodor Bumiller, Mannheim und der deutsche Kolonialismus um 1900 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz; 127), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021, 342 S., ISBN 978-3-525-10157-5, EUR 70,00

Rezension von:
Dennis Schmidt
FernUniversität Hagen
Empfohlene Zitierweise:
Dennis Schmidt: Rezension von: Bernhard Gißibl / Katharina Niederau (Hgg.): Imperiale Weltläufigkeit und ihre Inszenierungen. Theodor Bumiller, Mannheim und der deutsche Kolonialismus um 1900 , Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 2 [15.02.2023], URL: https://www.sehepunkte.de/2023/02/37924.html


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